Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
totzuschlagen, wurde jetzt zum Besten der slawischen Brüder getan. Bälle, Konzerte, Festmähler, Tischreden, Biertrinken, Wirtshausbesuche: alles zeugte von dem Mitgefühl mit den Stammesgenossen.
Mit vielem, was hierüber geredet und geschrieben wurde, war Sergei Iwanowitsch nicht in allen Einzelheiten einverstanden. Er sah, daß die slawische Frage zur Mode geworden war, wie denn solche Moden immer, eine die andere ablösend, der vornehmen Gesellschaft zum Zeitvertreib dienen; er sah auch, daß nicht wenige lediglich mit selbstsüchtigen Absichten und ehrgeizigen Bestrebungen sich dieser Sache zu wandten. Er verhehlte sich nicht, daß die Zeitungen viel Unnützes und Übertriebenes druckten, nur in der Absicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und andere zu überschreien. Er sah, daß bei dieser allgemeinen Begeisterung der Bevölkerung allerlei Leute, die bisher nicht zur Geltung gekommen waren und sich gekränkt fühlten, sich vordrängten und lauter schrien als die anderen: Oberbefehlshaber ohne Armeen, Minister ohne Ministerien, Journalisten ohne Zeitungen, Parteiführer ohne Anhänger. Er sah, daß dabei viel Hohlheit und Lächerlichkeit mit unterlief; aber er sah auch mit Genugtuung eine zweifellos echte, immer wachsende Begeisterung, in der alle Gesellschaftsklassen sich zusammenfanden und der man seine Anteilnahme nicht versagen konnte. Die Niedermetzelung der slawischen Glaubens- und Stammesgenossen erweckte Mitleid mit den Märtyrern und Entrüstung gegen die Bedrücker. Und die Heldenhaftigkeit der Serben und Montenegriner, die für die große Sache kämpften, erzeugte beim ganzen Volke ein Verlangen, den Brüdern nicht mehr nur mit Worten, sondern mit der Tat beizustehen.
Damit verband sich noch eine andere Erscheinung, über die Sergei Iwanowitsch große Freude empfand. Dies war das Entstehen einer öffentlichen Meinung. Das Volk bekundete in klarer Form, was es wollte und wünschte. Die Volksseele war sichtbar in Erscheinung getreten, wie sich Sergei Iwanowitsch ausdrückte. Und je mehr er sich mit diesem Gegenstand beschäftigte, um so mehr fühlte er sich in der Überzeugung befestigt, daß dies eine Sache war, der beschieden sei, eine gewaltige Ausdehnung zu gewinnen und einen neuen Abschnitt der Weltgeschichte herbeizuführen.
Er weihte dem Dienst dieser großen Sache seine gesamte Kraft und hörte auf, an sein Buch zu denken.
Seine ganze Zeit war jetzt besetzt, so daß er außerstande war, auf alle an ihn gerichteten Briefe und Begehren zu antworten.
Nachdem er den ganzen Frühling über und noch während eines Teiles des Sommers mit angespannter Kraft angestrengt gearbeitet hatte, schickte er sich erst im Juli an, zu seinem Bruder aufs Land zu fahren.
Er unternahm diese Reise, um sich vierzehn Tage zu erholen, aber auch, um in dem eigentlichen Heiligtum der Nation, beim weltabgeschiedenen Landvolk, sich am Anblick jenes Aufschwungs der Volksseele zu erfreuen, von dessen tatsächlichem Vorhandensein er mit allen Bewohnern der Residenz und der übrigen Städte fest überzeugt war. Katawasow, der schon längst vorgehabt hatte, das Versprechen, das er Ljewin gegeben hatte, zu erfüllen und ihn zu besuchen, reiste mit ihm.
2
S ergei Iwanowitsch und Katawasow waren in Moskau soeben bei dem an diesem Tage besonders belebten Kursker Bahnhof vorgefahren, sie waren aus ihrem Wagen ausgestiegen und hatten sich nach dem Diener umgesehen, der ihnen in einem anderen Wagen das Gepäck nachbrachte, als vier Droschken mit Freiwilligen angefahren kamen. Damen mit Blumensträußen bewillkommneten die Freiwilligen und gingen mit ihnen, von der nachströmenden Volksmenge begleitet, in das Bahnhofsgebäude hinein.
Eine der Damen, die den Freiwilligen diesen Empfang bereitet hatten, kam zufällig wieder aus dem Wartesaal heraus und wandte sich an Sergei Iwanowitsch.
»Sind Sie auch hergekommen, um ihnen das Geleite zu geben?« fragte sie ihn auf französisch.
»Nein, ich reise selbst ab, Fürstin. Ich möchte mich bei meinem Bruder ein bißchen erholen. Aber Sie haben wohl fortwährend damit zu tun, abreisenden Freiwilligen das Geleite zu geben?« sagte Sergei Iwanowitsch mit einem ganz leisen Lächeln.
»Allerdings, ich kann mich dem nicht entziehen!« antwortete die Fürstin. »Ist es wahr, daß von uns hier schon achthundert Mann abgegangen sind? Malwinski wollte es mir nicht glauben.«
»Mehr als achthundert. Und wenn man die mitrechnet, die
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