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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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seine Stimme verloren hatte, gelegentlich ein paar geringschätzige Bemerkungen über Kosnüschews Buch gebracht worden, die darauf hindeuteten, daß alle schon längst über dieses Buch den Stab gebrochen hätten und es allgemeinem Gelächter verfallen sei.
     
    Endlich im dritten Monat erschien in einer wissenschaftlichen Zeitschrift eine Besprechung. Sergei Iwanowitsch kannte auch den betreffenden Rezensenten; er hatte ihn einmal bei Golubzow getroffen.
     
    Der Rezensent war ein sehr junger, kränklicher Literat, recht gewandt mit der Feder, aber nur sehr mangelhaft gebildet und im persönlichen Verkehr linkisch.
     
    Obwohl Sergei Iwanowitsch ihn außerordentlich gering einschätzte, machte er sich doch voller Achtung vor der Besprechung daran, sie zu lesen. Sie war geradezu entsetzlich.
     
    Offenbar hatte der junge Literat das ganze Buch in einer Weise aufgefaßt, in der es nicht aufgefaßt werden konnte und durfte. Aber er hatte die daraus angeführten Teile so geschickt zusammengestellt, daß es allen, die es nicht gelesen hatten (und augenscheinlich hatte es so gut wie niemand gelesen), völlig klar sein mußte, daß dieses ganze Buch nichts anderes war als eine Sammlung hochtönender leerer Worte, und noch dazu mißbräuchlich verwendeter (worauf die beigesetzten Fragezeichen hinwiesen) und daß dem Verfasser alles tiefere Wissen völlig abging. Und alles das war so scharfsinnig ausgeführt, daß sogar Sergei Iwanowitsch selbst auf einen solchen Scharfsinn stolz gewesen wäre; aber gerade das war ja eben an dieser Kritik das Entsetzliche.
     
    Obgleich Sergei Iwanowitsch sich eigentlich vorgenommen hatte, die Richtigkeit der Beschuldigungen des Rezensenten mit aller Gewissenhaftigkeit zu prüfen, so hielt er sich doch in Wirklichkeit keinen Augenblick bei den Mängeln und Irrtümern auf, über die jener gespottet hatte, sondern ging unwillkürlich sofort dazu über, sich seine Begegnung und sein Gespräch mit dem Verfasser dieser Besprechung bis in die kleinsten Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen.
     
    ›Habe ich ihn vielleicht durch irgend etwas beleidigt?‹ fragte er sich.
     
    Und als er sich erinnerte, daß er bei jener Begegnung dem jungen Menschen eine Redewendung verbessert hatte, durch die dieser einen argen Mangel an Kenntnissen verraten hatte, da konnte Sergei Iwanowitsch nicht daran zweifeln, daß er damit die Erklärung für die gehässige Haltung des Aufsatzes gefunden habe.
     
    Nach dieser Beurteilung wurde nirgends mehr, weder in der Presse noch gesprächsweise, über das Buch auch nur ein Wort geäußert, und Sergei Iwanowitsch konnte sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß dieses Werk, an dem er sechs Jahre lang mit soviel Liebe und Fleiß gearbeitet hatte, spurlos vorübergegangen war.
     
    Als eine weitere Unannehmlichkeit seiner jetzigen Lage empfand es Sergei Iwanowitsch, daß nun, nach Beendigung seines Buches, die stille Arbeit am Schreibtisch für ihn wegfiel, die in diesen Jahren einen großen Teil seiner Zeit ausgefüllt hatte.
     
    Sergei Iwanowitsch war ein kluger, gebildeter, gesunder, arbeitsfreudiger Mensch und wußte nicht, worauf er nun seine Tätigkeit richten sollte. Gespräche und Auseinandersetzungen in den Salons, in Vereinen, Versammlungen, auf Tagungen, kurz überall, wo überhaupt geredet werden konnte, nahmen einen Teil seiner Zeit in Anspruch; aber als langjähriger Stadtbewohner mochte er nicht ganz und gar in solchen Gesprächen und Verhandlungen aufgehen, wie das sein unerfahrener Bruder tat, wenn er zu Besuch in Moskau war; es blieb ihm noch viel freie Zeit und Geisteskraft übrig.
     
    Es traf sich für ihn glücklich, daß gerade in dieser Zeit, wo er sich wegen des Mißerfolges seines Buches unbehaglich fühlte, jene Fragen, die bisher im Vordergrund des gesellschaftlichen Lebens gestanden hatten, nämlich die Fragen, die die Andersgläubigen, die amerikanischen Freunde, die Hungersnot im Gouvernement Samara, die Ausstellung, den Spiritismus und anderes betrafen, von einer anderen Frage abgelöst wurden, von der slawischen Frage, die bis dahin in Rußland nur geglimmt hatte; und Sergei Iwanowitsch, der schon früher mit anderen eifrig bemüht gewesen war, diese Frage zu hellerer Glut anzufachen, widmete sich ihr nun mit seiner ganzen Kraft.
     
    In dem Gesellschaftskreise, dem er angehörte, redete und schrieb man damals von nichts anderem als vom serbischen Kriege. Alles, was die müßige Menge für gewöhnlich tut, um die Zeit

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