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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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erkaufte Recht, aller Beschlußfassung überhoben zu sein, verzichtet?«
     
    Gern hätte er noch folgendes gesagt: ›Wenn die Meinung der Bevölkerung ein unfehlbarer Richter ist, warum werden dann Revolution und Kommune nicht für ebenso gesetzlich erachtet wie die Bewegung zugunsten der slawischen Brüder?‹ Aber all das waren Gedanken, durch die doch keine Entscheidung der Streitfrage herbeigeführt werden konnte. Eines aber erkannte er mit Sicherheit: daß sich Sergei Iwanowitsch in diesem Augenblicke durch den Streit in gereizter Stimmung befand und deshalb eine Fortsetzung der Auseinandersetzung bedenklich war. So schwieg Ljewin denn und lenkte die Aufmerksamkeit seiner Gäste darauf hin, daß die Wolken sich zusammengezogen hatten und es wegen des zu erwartenden Regens geraten sei, nach Hause zurückzukehren.
     

17
     
    D er Fürst und Sergei Iwanowitsch stiegen in das Wägelchen und fuhren ab; die übrige Gesellschaft wanderte zu Fuß mit beschleunigtem Schritt nach Hause.
     
    Aber die teils weiß, teils schwarz aussehende Gewitterwolke rückte so schnell heran, daß man noch schneller gehen mußte, um noch vor dem Regen nach Hause zu kommen. Der Hauptwolke voran zogen kleinere, niedrig gehende Wolken, schwarz wie mit Ruß vermischter Rauch, und liefen mit gewaltiger Schnelligkeit über den Himmel dahin. Bis zum Hause fehlten noch zweihundert Schritt, und schon hatte sich der Wind erhoben, und jeden Augenblick war ein furchtbarer Regenguß zu erwarten.
     
    Die Kinder liefen mit ängstlichem, freudigem Gekreische voraus.
     
    Darja Alexandrowna, mühsam mit ihren Röcken kämpfend, die sich ihr eng um die Beine legten, ging schon nicht mehr, sondern lief und hatte dabei immer ihre Augen auf die Kinder gerichtet. Die Herren hielten ihre Hüte fest und gingen mit großen Schritten. Sie waren bereits dicht an der Haustür, als ein großer Tropfen auf den Rand der blechernen Dachrinne niederschlug und auseinanderspritzte. Die Kinder und ihnen folgend die Erwachsenen liefen mit fröhlichen Scherzworten unter das schützende Dach.
     
    »Wo ist Katerina Alexandrowna?« fragte Ljewin seine alte Wirtschafterin Agafja Michailowna, die ihnen im Flur mit Tüchern und Reisedecken entgegenkam.
     
    »Wir dachten, sie wäre bei Ihnen«, antwortete sie.
     
    »Und Dmitri?«
     
    »Dann sind sie gewiß im Hain; die Kinderfrau ist auch bei ihnen.«
     
    Ljewin ergriff ein paar Decken und lief nach dem Hain.
     
    In dieser kurzen Zwischenzeit hatte sich die Gewitterwolke mit ihrem Kern schon so weit über die Sonne geschoben, daß es so dunkel geworden war wie bei einer Sonnenfinsternis. Der Wind schien eigensinnig seinen Willen durchsetzen und Ljewin zurückhalten zu wollen; und indem er Blätter und Blüten von den Linden abriß und in häßlicher, seltsamer Weise die weißen Äste der Birken entblößte, bog er alles nach einer Seite hin: die Akaziensträucher, die Blumen, die großen Klettenblätter, das Gras und die Wipfel der Bäume. Ein paar Bauernmädchen, die im Garten arbeiteten, liefen kreischend unter das Dach des Gesindehauses. Der weiße Vorhang, den der strömende Regen bildete, hatte sich schon über den ganzen fernen Wald und über die Hälfte des nahe gelegenen Feldes hingezogen und rückte schnell auf den Hain zu. Die Feuchtigkeit des in kleine Tropfen zerstobenen Regens war bereits in der Luft zu spüren.
     
    Den Kopf ganz nach vorn gebeugt und gegen den Wind ankämpfend, der ihm die Tücher entreißen wollte, näherte sich Ljewin eilends dem Haine und meinte schon hinter der Eiche etwas Weißes zu erblicken, als plötzlich alles aufflammte, die ganze Erde zu brennen und über seinem Kopfe das Himmelsgewölbe zu bersten schien. Als Ljewin seine geblendeten Augen wieder öffnete, sah er durch den dichten Regenschleier, der ihn jetzt vom Hain trennte, früher als alles andere mit Entsetzen, daß der grüne Wipfel der ihm wohlbekannten Eiche in der Mitte des Haines seine Haltung in sonderbarer Weise verändert hatte. ›Ist wirklich der Blitz hineingefahren?‹ dachte Ljewin; aber in demselben Augenblicke neigte sich der Wipfel der Eiche, seine Bewegung immer mehr und mehr beschleunigend, verschwand hinter den anderen Bäumen, und Ljewin hörte das Krachen des auf die anderen Bäume niederstürzenden Baumriesen.
     
    Das Licht des Blitzes, der Ton des Donners und das Gefühl einer seinen Körper augenblicklich überlaufenden Kälte flossen für Ljewin in eine einzige Empfindung des Schreckens

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