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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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beginnen sollte) und obwohl er von Neugier und Unruhe erfüllt war, weshalb man ihn wohl rufen möge, so kamen ihm dennoch, sobald er das Zimmer verlassen hatte und allein war, sofort wieder die Gedanken in den Sinn, mit denen er sich am Morgen beschäftigt hatte. Und alle diese Überlegungen über die Bedeutung des Slawentums in der Weltgeschichte erschienen ihm so nichtig im Vergleich mit dem, was in seiner Seele vorging, daß er dies alles augenblicklich vergaß und sich wieder in dieselbe Stimmung zurückversetzt fühlte, in der er sich am Morgen dieses Tages befunden hatte.
     
    Er rief sich jetzt nicht, wie das früher seine Gewohnheit war, seinen ganzen Gedankengang ins Gedächtnis zurück; dessen bedurfte er jetzt nicht. Er versetzte sich mit einem Schlage in jenes Gefühl hinein, das ihn geleitet hatte und das mit diesen Gedanken verknüpft war, und fand, daß dieses Gefühl sich in seiner Seele zu noch größerer Stärke und Bestimmtheit entwickelt hatte als vorher. Jetzt widerfuhr ihm nicht, was ihm bei früheren kunstvoll ausgesonnenen Versuchen der Selbstberuhigung oft begegnet war, wo er den ganzen Gedankengang wieder hatte zurückverfolgen müssen, um das beruhigende Gefühl zu finden. Jetzt war ganz im Gegenteil das Empfinden der Freude und Beruhigung in seiner Seele lebendiger als vorher, und das Denken konnte mit dem Fühlen nicht Schritt halten.
     
    Er ging über die Terrasse und blickte zu zwei Sternen hinauf, die an dem bereits dunkel gewordenen Himmel hervortraten, und auf einmal fiel ihm ein: ›Ja, als ich zum Himmel hinaufsah, da überlegte ich, daß das Gewölbe, das ich sehe, keine Unwahrheit ist, und dabei dachte ich irgendeinen Gedanken nicht zu Ende, ich verbarg etwas vor mir selbst‹, sagte er bei sich. ›Aber was es auch gewesen sein mag, eine Widerlegung des gewonnenen Ergebnisses kann es nicht sein. Ich brauche nur darüber nachzudenken, so wird mir alles klarwerden.‹
     
    Unmittelbar vor der Tür des Kinderzimmers fiel ihm ein, was das gewesen war, was er vor sich selbst verborgen hatte. Es war die Frage gewesen: Wenn der Hauptbeweis für das Dasein Gottes darin besteht, daß er uns offenbart hat, was das Gute ist, warum beschränkt sich dann diese Offenbarung allein auf die christliche Kirche? Welche Beziehung zu dieser Offenbarung haben die Religionen der Buddhisten, der Mohammedaner, die doch auch das Gute als Ziel des menschlichen Handelns bekennen und das Gute tun?
     
    Er glaubte, eine Antwort auf diese Frage zu haben; aber er hatte noch nicht Zeit gehabt, dieser Antwort eine feste Form zu geben, als er schon ins Kinderzimmer trat.
     
    Kitty stand mit aufgestreiften Ärmeln an der Badewanne, über das darin herumplätschernde Kind gebeugt; als sie die Schritte ihres Mannes hörte, wendete sie ihm ihr Gesicht zu und rief ihn durch ein Lächeln zu sich heran. Mit der einen Hand hielt sie unter dem Kopf den auf dem Rücken schwimmenden und mit den Beinchen strampelnden dicken, kräftigen Kleinen, mit der anderen drückte sie, die Muskeln gleichmäßig anspannend, den Schwamm über ihm aus.
     
    »Nun sieh nur, sieh nur mal!« sagte sie, als ihr Mann zu ihr trat. »Agafja Michailowna hat recht: er erkennt.«
     
    Es handelte sich darum, daß Dmitri seit dem heutigen Tage augenscheinlich und zweifellos alle die Seinigen erkannte.
     
    Als Ljewin an die Badewanne herantrat, wurde ihm sofort ein Versuch vorgeführt, und der Versuch gelang vollkommen. Die Köchin, die eigens zu diesem Zwecke hereingerufen wurde, beugte sich über den Kleinen. Er machte ein finsteres Gesicht und schüttelte verneinend mit dem Kopfe. Nun beugte sich Kitty über ihn: da überzog ein strahlendes Lächeln sein Gesicht, er stemmte sich mit den Händchen gegen den Schwamm und brachte, mit den Lippen prustend, einen so sonderbaren Laut der Zufriedenheit hervor, daß nicht nur Kitty und die Kinderfrau, sondern auch Ljewin überrascht und entzückt waren.
     
    Das Kind wurde auf einer Hand aus der Wanne gehoben, mit Wasser übergossen, in ein Leintuch gehüllt, abgetrocknet und nach durchdringendem Schreien der Mutter übergeben.
     
    »Nun, ich freue mich, daß du anfängst, ihn liebzuhaben«, sagte Kitty zu ihrem Manne, nachdem sie sich mit dem Kinde an der Brust ruhig auf ihren gewohnten Platz gesetzt hatte. »Ich freue mich recht darüber. Ich fing auch schon an, mich darüber zu ärgern. Du sagtest, daß du nichts für ihn empfändest.«
     
    »Aber nein, das habe ich doch nicht gesagt, daß ich

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