Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Erklären Sie mir doch, um des Himmels willen, Sergei Iwanowitsch, wohin ziehen denn alle diese Freiwilligen? Mit wem führen sie Krieg?« fragte der alte Fürst, offenbar in Fortsetzung eines Gesprächs, das schon vor Ljewins Anwesenheit angefangen hatte.
»Mit den Türken«, erwiderte Sergei Iwanowitsch mit ruhigem Lächeln. Er hatte nun die vom Honig dunkel gewordene Biene, die hilflos mit den Beinchen umherarbeitete, glücklich befreit und setzte sie mit dem Messer auf ein festes Espenblatt.
»Aber wer hat denn den Türken den Krieg erklärt? Etwa Iwan Iwanowitsch Ragosow und die Gräfin Lydia Iwanowna und Madame Stahl?«
»Den Krieg hat ihnen niemand erklärt. Die Leute haben eben Mitleid mit den Leiden ihrer Mitmenschen und möchten ihnen helfen«, antwortete Sergei Iwanowitsch.
»Aber der Fürst spricht nicht vom bloßen Helfen«, bemerkte Ljewin, der für seinen Schwiegervater eintrat, »sondern vom Kriegführen. Der Fürst meint, daß Privatpersonen ohne Genehmigung der Regierung sich nicht an einem Kriege beteiligen dürfen.«
»Konstantin, sieh nur, da ist eine Biene! Sie werden uns wahrhaftig noch ganz zerstechen«, sagte Dolly, indem sie eine Wespe wegscheuchte.
»Aber das ist ja keine Biene; das ist eine Wespe«, erwiderte Ljewin.
»Na aber, was haben Sie da für eine wunderliche Theorie?« sagte Katawasow lächelnd zu Ljewin; er wollte ihn offenbar zu einem Streite herausfordern. »Warum sollten Privatpersonen dazu kein Recht haben?«
»Meine Anschauung ist die: erstens ist der Krieg etwas so Tierisches, Grausames und Schreckliches, daß kein Mensch, geschweige denn ein Christ es persönlich verantworten kann, einen Krieg zu beginnen; das kann nur die dazu berufene Regierung, wenn sie sich unvermeidlich zum Kriege gedrängt sieht. Und zweitens verzichten, wie das sowohl die theoretische Wissenschaft wie auch der gesunde Menschenverstand verlangt, die Bürger in Staatsangelegenheiten und namentlich im Punkte des Krieges auf ihren persönlichen Willen.«
Sergei Iwanowitsch und Katawasow begannen gleichzeitig, die Erwiderungen, die ihnen schon auf der Zunge geschwebt hatten, vorzubringen.
»Darin liegt ja eben die Schwierigkeit, liebster Freund«, sagte Katawasow, »daß Fälle vorkommen können, wo die Regierung den Willen der Bürger nicht erfüllt, und dann bekundet die Bevölkerung ihren Willen.«
Aber Sergei Iwanowitsch war mit dieser Erwiderung augenscheinlich nicht einverstanden. Er machte zu Katawasows Worten ein finsteres Gesicht und äußerte sich in anderer Weise.
»Du hast die Frage nicht richtig gestellt. Um eine Kriegserklärung handelt es sich hier überhaupt nicht, sondern einfach um den Ausdruck menschlichen, christlichen Empfindens. Man mordet unsere Brüder, die mit uns desselben Blutes sind, denselben Glauben haben. Nun, setzen wir sogar den Fall, es wären nicht Stammes- und Glaubensgenossen, sondern einfach Kinder, Frauen und Greise: auch dann empört sich das Gefühl darüber, und russische Männer eilen hin, um zur Beendigung dieser Greuel mitzuwirken. Stelle dir vor, du gingest auf der Straße und sähest, daß ein Betrunkener eine Frau oder ein Kind schlägt; ich meine, du würdest dann nicht erst fragen, ob diesem Menschen der Krieg erklärt ist oder nicht, sondern würdest dich auf ihn stürzen und den Mißhandelten schützen.«
»Aber ich würde ihn nicht töten«, versetzte Ljewin.
»Doch, du würdest ihn töten.«
»Das weiß ich denn doch nicht. Wenn ich dergleichen sähe, so würde ich mich von meinem unmittelbaren Gefühl bestimmen lassen; aber vorhersagen läßt sich so etwas nicht. Ein derartiges unmittelbares Gefühl ist jedoch wegen der Unterdrückung der Slawen nicht da und kann auch gar nicht da sein.«
»Vielleicht nicht bei dir; aber bei anderen ist es vorhanden«, erwiderte Sergei Iwanowitsch und runzelte unzufrieden die Stirn. »Im Volke sind noch die Überlieferungen von den Rechtgläubigen lebendig, die unter dem Joche der ›grimmen Muselmänner‹, wie es in den Liedern heißt, gelitten haben. Das Volk hat von den Leiden seiner Brüder gehört und seine Stimme erhoben.«
»Mag sein«, antwortete Ljewin nachgiebig. »Aber ich merke es nicht; ich gehöre doch auch zum Volke und habe diese Empfindung nicht.«
»Na, und ich habe sie auch nicht«, fiel der alte Fürst ein. »Als ich im Ausland war und dort die Zeitungen las, da habe ich, offen gestanden, noch vor den
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