Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
bulgarischen Greueln schlechterdings nicht begreifen können, weshalb alle Russen auf einmal ihre slawischen Brüder so liebgewonnen hatten und ich für meine Person gar keine Liebe zu ihnen empfand. Ich war sehr verdrossen und glaubte, ich wäre ein Ungeheuer oder das wäre bei mir die Wirkung von Karlsbad. Aber als ich wieder hierher nach Rußland kam, beruhigte ich mich; ich sehe, daß es auch außer mir noch Leute gibt, die sich nur für Rußland einsetzen und nicht auch für die slawischen Brüder. So unter anderen auch unser Konstantin hier.«
»Individuelle Ansichten können hier nichts besagen«, versetzte Sergei Iwanowitsch. »Auf individuelle Ansichten kommt es nicht an, wenn ganz Rußland, das ganze Volk seinen Willen zum Ausdruck gebracht hat.«
»Verzeihen Sie, davon merke ich nichts. Das Volk hat von diesen Dingen keine Ahnung«, sagte der Fürst.
»Aber nicht doch, Papa ... Wie sollte das Volk nichts davon wissen? Denk doch nur an den letzten Sonntag in der Kirche«, sagte Dolly, die das Gespräch mit angehört hatte. »Gib mir, bitte, ein Handtuch«, wandte sie sich an den alten Bienenwärter, der lächelnd die Kinder betrachtete. »Es ist ja unmöglich, daß alle ...«
»Nun, was ist denn am letzten Sonntag in der Kirche geschehen? Der Geistliche war angewiesen worden, etwas vorzulesen. Und da hat er es denn vorgelesen. Die Leute verstanden nichts davon und seufzten wie bei jeder Predigt«, fuhr der Fürst fort. »Dann wurde ihnen gesagt, es würde in der Kirche gesammelt werden und es sei dem Seelenheile förderlich, etwas zu geben; na, da holten sie jeder eine Kopeke heraus und gaben sie; aber wozu sie Geld gaben, das wußten sie selbst nicht.«
»Es ist nicht möglich, daß das Volk das nicht wüßte. Das Bewußtsein seiner Mission ist allezeit im Volke vorhanden und wird ihm in Augenblicken wie den jetzigen besonders deutlich«, sagte Sergei Iwanowitsch mit Ernst und Nachdruck und sah dabei den alten Bienenwärter an.
Der schöne alte Mann mit dem schwarz und grau gesprenkelten Barte und dem dichten, silberweißen Haupthaar stand da, ohne sich zu rühren, und blickte, eine Schüssel mit Honig in der Hand haltend, freundlich und ruhig von der Höhe seines Wuchses auf die Herrschaften herab, von deren Gespräch er offenbar nichts verstand und nichts zu verstehen wünschte.
»Ganz gewiß«, sagte er, bedeutsam mit dem Kopfe nickend, auf Sergei Iwanowitschs Worte.
»Nun, dann fragt ihn doch einmal. Er weiß nichts davon und denkt nichts darüber«, sagte Ljewin. »Hast du wohl vom Kriege gehört, Michailütsch?« wandte er sich an den Alten. »Ich meine, was in der Kirche vorgelesen wurde? Wie denkst du darüber? Müssen wir für die Christen in den Krieg ziehen?«
»Wozu brauchen wir darüber nachzudenken? Unser Kaiser Alexander Nikolajewitsch hat bisher für uns gedacht und wird auch weiter für uns in allen Dingen denken. Er versteht das besser ... Soll ich noch ein bißchen Brot bringen? Vielleicht noch für das junge Herrchen?« wandte er sich an Darja Alexandrowna und wies auf Grigori, der dabei war, den Rest seiner Brotrinde zu verzehren.
»Ich brauche da nicht erst zu fragen«, sagte Sergei Iwanowitsch. »Hunderte und Hunderte von Menschen haben wir gesehen und sehen wir noch täglich, die alles stehen- und liegenlassen, um der gerechten Sache zu dienen, die von allen Enden Rußlands herbeikommen und offen und klar ihre Gedanken und ihre Absichten aussprechen. Sie bringen ihren Geldbetrag oder ziehen selbst mit und sagen frei und offen, warum sie das tun. Woher kommt das alles?«
»Meiner Ansicht nach«, erwiderte Ljewin, der nun anfing, hitzig zu werden, »kommt das daher, daß sich in einem Volke von achtzig Millionen immer nicht nur Hunderte wie jetzt, sondern viele, viele Tausende von Menschen finden werden, die ihre soziale Stellung eingebüßt haben, Ausweglose, die immer zu allem bereit sind: in eine Pugatschewsche Bande einzutreten oder nach Chiwa oder Serbien ins Feld zu ziehen ...«
»Aber ich kann dir sagen, daß es sich nicht um einige Hunderte handelt und nicht um Ausweglose, sondern um die besten Vertreter des Volkes!« versetzte Sergei Iwanowitsch in einer Erregung, als ob er das letzte Stück seines Besitztums verteidigte. »Und die Geldspenden? Da liegt es doch auf der Hand, daß das ganze Volk seinen Willen bekundet.«
»›Volk‹ ist ein sehr unbestimmter Begriff«, entgegnete Ljewin. »Die Gemeindeschreiber,
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