Anna Karenina
werde; denn
er hoffte, daß diese Nachricht wie das Ausziehen eines Zahnes ihn vollständig heilen werde.
Unterdessen war der Frühling gekommen, ein schöner, freundlicher Frühling, der keine zu großen Erwartungen
erregt und dafür auch keine Enttäuschungen gebracht hatte, einer jener seltenen Frühlinge, über die sich Pflanzen,
Tiere und Menschen zugleich freuen. Dieser schöne Frühling half noch weiter, Ljewin wieder frisch und munter zu
machen, und bestärkte ihn in seinem Vorsatze sich von der gesamten Vergangenheit loszusagen, um sein lediges Leben
fest und unabhängig zu gestalten. Gar manche von den Plänen, mit denen er auf das Land zurückgekehrt war, hatte er
zwar nicht ausführen können, aber doch gerade den wichtigsten: er hatte die Reinheit seines Lebenswandels bewahrt.
Er blieb jetzt frei von dem Schamgefühl, das ihn gewöhnlich nach einem Fehltritte gequält hatte, und konnte den
Menschen unbefangen in die Augen sehen. Es war noch im Februar gewesen, als er von Marja Nikolajewna einen Brief
erhalten hatte, daß der Gesundheitszustand seines Bruders Nikolai sich verschlimmert habe, er wolle aber trotzdem
von einer Kur nichts wissen. Infolge dieses Briefes war Ljewin zu seinem Bruder nach Moskau gefahren und hatte
diesen durch Überredung dahin gebracht, einen Arzt zu befragen und nach einem Badeort ins Ausland zu fahren. Es war
ihm so gut gelungen, den Bruder zu überreden und ihm Geld zur Reise zu borgen, ohne ihn dadurch in Erregung zu
versetzen, daß er in dieser Hinsicht mit sich recht wohl zufrieden war. Außer der Wirtschaft, die im Frühjahr
besondere Achtsamkeit erforderte, und außer seiner üblichen Lektüre hatte Ljewin in diesem Winter noch begonnen,
eine landwirtschaftliche Abhandlung zu schreiben, deren Hauptgedanke folgender war: Man müsse in der Landwirtschaft
den Charakter des Arbeiters als eine schlechthin gegebene Größe auffassen, genauso wie das Klima und die
Bodenbeschaffenheit; und folglich müßten alle Lehrsätze der landwirtschaftlichen Wissenschaft nicht aus zwei
gegebenen Größen, dem Klima und der Bodenbeschaffenheit, sondern aus dreien, dem Klima, der Bodenbeschaffenheit und
dem bekannten unveränderlichen Charakter des Arbeiters abgeleitet werden. So hatte denn, obgleich er so allein
dastand oder auch gerade deswegen, sein Leben einen vollen Inhalt; nur empfand er bisweilen den unbefriedigten
Wunsch, die in seinem Kopfe gärenden Gedanken noch sonst jemandem außer Agafja Michailowna mitteilen zu können;
denn es kam nicht selten vor, daß er sich auch mit ihr über Physik, über Theorie der Landwirtschaft und namentlich
über Philosophie unterhielt; die Philosophie war Agafja Michailownas Lieblingsfach.
Der Frühling hatte lange nicht recht zum Durchbruch kommen wollen. Die letzten Fastenwochen hatten klares
Frostwetter gebracht. Bei Tage taute es zwar in der Sonne, aber in der Nacht sank das Thermometer auf sieben Grad
unter Null; die Eisrinde auf dem Schnee war so stark, daß die Frachtfuhren ohne Weg darüber hinfuhren. Zu Ostern
lag der Schnee noch überall. Da begann plötzlich am zweiten Feiertage ein warmer Wind zu wehen, dunkle Wolken
wälzten sich heran, und drei Tage und drei Nächte lang strömte ein gewaltiger warmer Regen hernieder. Am Donnerstag
legte sich der Wind, und es breitete sich ein dichter, grauer Nebel aus, als ob er die Geheimnisse der in der Natur
sich vollziehenden Veränderungen verbergen wollte. In dem Nebel fingen die Gewässer an zu strömen, die Eisdecke
barst, und die Schollen setzten sich in Bewegung; schneller strömten die trüben, schäumenden Flüsse dahin, und
gerade am Sonntag nach Ostern gegen Abend zerriß der Nebel, das dunkle Gewölk löste sich in weiße Lämmerwölkchen
auf, der Himmel klärte sich, und dann brach der richtige Frühling an. Morgens verzehrte die aufsteigende, hell
strahlende Sonne schnell die dünne Eisschicht, die nachts das Wasser überzogen hatte, und die ganze warme Luft
zitterte von den sie erfüllenden Ausdünstungen der neu belebten Erde. Es grünte das alte Gras und nicht minder das
junge, das seine Spitzen aus dem Boden hervorstreckte; die Knospen der Schneeballsträucher, der
Johannisbeersträucher und der klebrigen, von berauschendem Safte strotzenden Birken schwollen, und auf den mit
goldgelben Blütenkätzchen überdeckten Weidensträuchern summten die aus ihren Körben hervorgekommenen
umherfliegenden Bienen. Unsichtbare Lerchen schmetterten
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