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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Begegnung fragten Kittys Augen: ›Wer sind
    Sie? Was sind Sie? Nicht wahr, Sie sind wirklich das prächtige Wesen, für das ich Sie halte? Aber glauben Sie ja
    nicht‹, fügte ihr Blick hinzu, ›daß ich so dreist bin, Ihnen meine Bekanntschaft aufdrängen zu wollen. Ich freue
    mich einfach Ihres Anblicks und habe Sie sehr gern.‹ – ›Ich habe Sie auch sehr gern‹, erwiderte der Blick des
    unbekannten Mädchens, ›und Sie sind sehr, sehr lieb und nett. Und ich würde Sie noch lieber haben, wenn ich nur
    mehr Zeit hätte.‹ Und in der Tat, Kitty sah, daß sie stets beschäftigt war: entweder führte sie die Kinder einer
    russischen Familie vom Brunnen nach Hause, oder sie brachte einer Kranken ein Umschlagtuch und wickelte sie darin
    ein, oder sie war bemüht, einen nervösen Kranken zu unterhalten und zu zerstreuen, oder sie kaufte für jemand
    Backwerk zum Kaffee.
    Bald nach der Ankunft der Familie Schtscherbazki begannen beim morgendlichen Brunnentrinken noch zwei Personen
    regelmäßig zu erscheinen, die die allgemeine Aufmerksamkeit, jedoch nicht in freundlichem Sinne, auf sich zogen. Es
    waren dies: ein Mann von hohem Wuchse, aber gebückter Haltung, mit gewaltig großen Händen, in einem kurzen, für
    seine Gestalt nicht passenden alten Überzieher, mit schwarzen, naiv blickenden und dabei doch furchterregenden
    Augen, und eine sehr schlecht und geschmacklos gekleidete Frau mit pockennarbigem, aber sehr gutem, freundlichem
    Gesichte. Als Kitty diese beiden Personen als Russen erkannt hatte, begann sie sofort, sich über sie in ihrer
    Phantasie einen schönen, rührenden Roman zurechtzumachen. Aber die Fürstin, die aus der Kurliste ersehen hatte, daß
    dies Nikolai Ljewin und Marja Nikolajewna waren, klärte Kitty darüber auf, was für ein schlechter Mensch dieser
    Ljewin sei, und so lösten sich denn alle ihre phantastischen Träumereien über dieses Paar in nichts auf. Nicht nur,
    weil die Mutter ihr mancherlei über diesen Menschen erzählt hatte, sondern auch, weil dieser Mensch Konstantins
    Bruder war, erschienen ihr diese beiden Personen auf einmal im höchsten Grade abstoßend. Dieser Ljewin erregte ihr
    jetzt durch seine Gewohnheit, mit dem Kopfe zu zucken, ein unüberwindliches Gefühl des Widerwillens.
    Es schien ihr, als ob in seinen großen, schrecklichen Augen, die ihr hartnäckig folgten, ein Ausdruck von Haß
    und Spott liege, und sie bemühte sich, Begegnungen mit ihm zu vermeiden.

31
    Eines Tages war ein recht garstiges Wetter; den ganzen Vormittag regnete es, und die Kranken drängten sich mit
    Schirmen im Wandelgang.
    Kitty wandelte dort mit ihrer Mutter und dem Moskauer Obersten hin und her, der vergnügt in seinem europäischen
    Oberrock einherstolzierte, den er sich in Frankfurt fertig gekauft hatte. Sie gingen auf der einen Seite des
    Wandelganges und bemühten sich, einem Zusammentreffen mit Ljewin auszuweichen, der auf der andern Seite ging.
    Warjenka, die wie gewöhnlich ein dunkles Kleid und einen schwarzen Hut mit hinuntergebogenen Krempen trug, wanderte
    mit einer blinden Französin den Wandelgang in seiner ganzen Länge auf und ab, und jedesmal, wenn sie und Kitty
    einander begegneten, warfen sie sich wechselseitig einen freundlichen Blick zu.
    »Mama, darf ich sie anreden?« sagte Kitty. Sie war ihrer unbekannten Freundin mit den Blicken gefolgt und hatte
    bemerkt, daß diese zum Brunnen ging, wo sich ein Zusammentreffen leicht ermöglichen ließ.
    »Nun, wenn das so sehr dein Wunsch ist, so will ich mich zunächst nach ihr erkundigen und dann selbst mit ihr
    anknüpfen«, erwiderte die Mutter. »Was hast du denn Besonderes an ihr gefunden? Wahrscheinlich ist sie eine
    Gesellschafterin. Wenn du es gern möchtest, will ich mich mit Madame Stahl bekannt machen. Ich habe ihre belle-sœur
    gekannt«, fügte die Fürstin, stolz den Kopf erhebend, hinzu.
    Kitty wußte, daß ihre Mutter sich dadurch verletzt fühlte, daß Frau Stahl es anscheinend vermied, ihre
    Bekanntschaft zu machen. So drang Kitty nicht weiter in sie.
    »Nein, wie lieb und gut sie ist!« sagte sie, als sie nach Warjenka gerade in dem Augenblicke hinschaute, da
    diese der Französin einen Becher Brunnen reichte. »Sehen Sie nur, wie natürlich und lieb alles an ihr ist.«
    »Mit deinen engouements 1 bist du höchst komisch«,
    versetzte die Fürstin. »Aber wir wollen lieber umkehren«, fügte sie hinzu, da sie bemerkte, daß ihnen Ljewin mit
    seiner Begleiterin und einem deutschen Arzte entgegenkam und zu

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