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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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fährt.«
    Anna blickte erschrocken um sich, erhob sich gehorsam und legte ihre Hand in den Arm ihres Mannes.
    »Ich will zu ihm schicken und mich erkundigen lassen und sende Ihnen dann Nachricht«, flüsterte Betsy ihr
    zu.
    Beim Hinausgehen aus der Loge sprach Alexei Alexandrowitsch genauso wie sonst immer mit Bekannten, auf die sie
    trafen, und auch Anna sah sich genötigt zu antworten und zu reden wie immer; aber sie war halb bewußtlos und
    schritt wie im Traume am Arme ihres Mannes dahin.
    ›Ist er verletzt oder nicht? Ist es wahr, daß er unbeschädigt ist? Wird er kommen oder nicht? Werde ich ihn
    heute wiedersehen?‹ dachte sie.
    Schweigend setzte sie sich in Alexei Alexandrowitschs Wagen, und schweigend fuhren sie aus dem Gedränge der
    Wagen hinaus. Trotz allem, was Alexei Alexandrowitsch gesehen hatte, vermied er es auch jetzt, über den wahren
    Seelenzustand seiner Frau nachzudenken. Er hatte nur äußere Merkmale gesehen. Er hatte gesehen, daß sie sich
    unpassend benommen hatte, und hielt es für seine Pflicht, ihr dies zu sagen. Aber es wurde ihm sehr schwer, nicht
    noch mehr zu sagen, sondern nur ebendies. Er öffnete den Mund, um ihr zu sagen, wie unpassend sie sich benommen
    habe; aber unwillkürlich sagte er etwas ganz anderes.
    »Es ist doch seltsam, wie wir alle uns zu diesen schrecklichen Schauspielen hingezogen fühlen«, sagte er. »Ich
    bemerke ...«
    »Was? Ich verstehe nicht«, unterbrach ihn Anna in geringschätzigem Tone.
    Er fühlte sich gekränkt und begann nun sogleich von dem, was er eigentlich zu sagen beabsichtigt hatte.
    »Ich muß Ihnen sagen ...«, fing er an.
    ›Jetzt kommt es, jetzt kommt die Aussprache‹, dachte sie, und es wurde ihr bange zumute.
    »Ich muß Ihnen sagen, daß Sie sich heute unpassend benommen haben«, sagte er zu ihr auf französisch.
    »Inwiefern habe ich mich unpassend benommen?« fragte sie laut; sie wandte rasch den Kopf zu ihm und blickte ihm
    gerade in die Augen, aber ganz und gar nicht mehr mit der früheren heuchlerischen Heiterkeit, sondern mit einer
    entschlossenen Miene, unter der sie nur mit Mühe ihre Angst verbarg.
    »Vergessen Sie nicht ...«, sagte er und deutete auf das offene Fenster hinter dem Rücken des Kutschers hin.
    Er erhob sich halb und zog die Scheibe in die Höhe.
    »Was haben Sie unpassend gefunden?« fragte sie noch einmal.
    »Die Verzweiflung, die Sie bei dem Sturze eines der Reiter nicht zu verbergen vermochten.«
    Er wartete, was sie wohl erwidern werde; aber sie schwieg und blickte vor sich hin.
    »Ich habe Sie schon früher einmal gebeten, sich in Gesellschaft so zu benehmen, daß auch die bösen Zungen nichts
    Nachteiliges über Sie sagen können. Es hat eine Zeit gegeben, da ich von dem innerlichen Verhältnis zwischen uns
    beiden sprach; davon spreche ich jetzt nicht mehr. Ich rede jetzt nur noch von unserem äußeren Verhältnis. Sie
    haben sich unpassend benommen, und ich möchte wünschen, daß sich das nicht wiederholt.«
    Sie hatte kaum die Hälfte von dem gehört, was er gesagt hatte; sie fürchtete sich vor ihm, auch waren ihre
    Gedanken damit beschäftigt, ob es wohl wahr sei, daß Wronski sich nicht beschädigt habe. Hatte sich das auf ihn
    bezogen, als gesagt wurde, der Reiter sei unverletzt, aber das Pferd habe sich das Rückgrat gebrochen? Als ihr Mann
    zu Ende gesprochen hatte, beschränkte sie sich auf ein gekünsteltes, spöttisches Lächeln und gab ihm keine Antwort,
    weil ihr das, was er gesagt hatte, gar nicht zum Verständnis gekommen war. Alexei Alexandrowitsch war, als er
    anfing zu sprechen, festen Mutes gewesen; aber als er sich dann in voller Klarheit bewußt wurde, worüber er
    eigentlich sprach, da teilte sich die Furcht, die sie empfand, auch ihm mit. Er sah ihr Lächeln und geriet in einen
    seltsamen Irrtum.
    ›Sie lächelt über meinen Verdacht. Ja, sie wird im nächsten Augenblick dasselbe sagen, was sie mir damals gesagt
    hat: daß mein Verdacht unbegründet ist, daß er lächerlich ist.‹
    Jetzt, wo die Enthüllung der ganzen Wahrheit wie ein Schwert über ihm schwebte, wünschte er nichts so sehr, als
    daß sie, wie das erste Mal, ihm spöttisch antworten möge, sein Verdacht sei lächerlich und ermangle jeder
    Begründung. Das, was er wußte, war so furchtbar, daß er jetzt bereit war, sich zu stellen, als ob er alles glaube.
    Aber der Ausdruck ihres Gesichtes, das angstvoll und finster aussah, benahm ihm die Hoffnung, daß sie wieder zur
    Lüge greifen werde.
    »Vielleicht irre

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