Anna Karenina
seinen Bekannten dadurch langweilig wurde, daß man sich gar nicht wieder von ihm
losmachen konnte, wenn man sich einmal in ein Gespräch mit ihm eingelassen hatte. Als alles dies eine so feste Form
angenommen hatte, begann Kitty sich sehr zu langweilen, um so mehr, da ihr Vater, der Fürst, nach Karlsbad gereist
und sie mit der Mutter allein zurückgeblieben war. Sie hatte kein Interesse an den Leuten, die sie schon kannte, da
sie wußte, daß sie an ihnen nichts Neues mehr entdecken werde. Ihre hauptsächlichste und liebste Beschäftigung in
diesem Badeorte bestand darin, die, die sie noch nicht kannte, zu beobachten und zu erraten, was das wohl für Leute
sein möchten. Es lag in Kittys Charakter, von allen Menschen das Beste zu denken, und ganz besonders von denen, die
sie nicht kannte. Auch während sie jetzt zu erraten suchte, wer und was diese Leute wohl seien und was für
Beziehungen zwischen ihnen beständen, malte sie sich die schönsten, edelsten Charaktere aus und glaubte in dem, was
sie beobachtete, eine Bestätigung ihrer Mutmaßungen zu finden.
Ihre besondere Teilnahme erregte unter diesen Persönlichkeiten ein russisches Fräulein, das zusammen mit einer
älteren, kranken russischen Dame nach dem Badeorte gekommen war, mit einer Madame Stahl, wie sie von allen genannt
wurde. Madame Stahl gehörte zur obersten Schicht der Gesellschaft, war aber so krank, daß sie nicht gehen konnte
und nur ganz selten an besonders schönen Tagen in einem Rollstuhl am Brunnen erschien. Indessen sprach die Fürstin
Schtscherbazkaja ihre Ansicht dahin aus, daß Madame Stahl nicht sowohl infolge ihrer Krankheit wie aus Stolz den
Verkehr mit den anwesenden Russen meide. Das russische Fräulein versah bei dieser Madame Stahl die Stelle einer
Pflegerin und war auch mit allen andern Schwerkranken, deren es in dem Badeorte eine ganze Menge gab, bekannt und
nahm sich ihrer in der unbefangensten, natürlichsten Weise an. Dieses russische Fräulein war nach Kittys
Beobachtungen keine Verwandte der Madame Stahl, dabei aber auch keine für Lohn angenommene Pflegerin. Sie wurde von
Madame Stahl Warjenka genannt, von anderen Mademoiselle Warjenka. Mit lebhaftem Interesse stellte Kitty ihre
Beobachtungen an über die Beziehungen dieses Fräuleins zu Frau Stahl und zu andern ihr unbekannten Personen; ja
noch mehr: Kitty empfand, wie das nicht selten vorkommt, eine unerklärliche Neigung zu dieser Mademoiselle Warjenka
und fühlte, wenn ihre Blicke sich trafen, daß auch jene an ihr Gefallen fand.
Mademoiselle Warjenka sah nicht so aus, als habe sie die erste Jugend bereits hinter sich, sondern eher wie ein
Wesen, dem die Jugend überhaupt versagt ist; man konnte sie auf neunzehn Jahre schätzen, aber auch auf dreißig
Jahre. Betrachtete man ihre Gesichtszüge, so konnte man sie trotz ihrer kränklichen Hautfarbe eher hübsch als
häßlich nennen. Auch eine schöne Gestalt hätte man ihr zusprechen können, wäre nicht ihr Körper allzu mager und ihr
Kopf für ihre mittlere Größe unverhältnismäßig groß gewesen; aber auf Männer konnte sie keine Anziehungskraft
ausüben. Sie glich einer schönen, zwar noch vollblättrigen, aber doch schon verblühten, duftlosen Blume. Außerdem
konnte sie auch noch deswegen auf die Männer nicht anziehend wirken, weil ihr das mangelte, was Kitty im Übermaße
besaß: das tiefinnerliche Lebensfeuer und das Bewußtsein der eigenen Anziehungskraft.
Sie schien stets mit Dingen von entschieden ernstem Charakter beschäftigt zu sein, und es machte daher den
Eindruck, als könne sie für nichts Andersartiges Sinn haben. Auf Kitty übte sie gerade durch diesen starken
Gegensatz zu ihrer eigenen Person eine besondere Anziehungskraft aus. Kitty fühlte, daß sie bei diesem Mädchen und
dessen ganzer Lebensgestaltung ein vorbildliches Beispiel für das finden werde, wonach sie jetzt so schmerzlich
suchte: ernste Lebensinteressen und Lebenswerte, außerhalb der ihr jetzt so zuwider gewordenen gesellschaftlichen
Beziehungen eines jungen Mädchens zum männlichen Geschlechte, die ihr jetzt als eine schmähliche Ausstellung einer
auf einen Käufer wartenden Ware erschienen. Je länger Kitty ihre unbekannte Freundin beobachtete, um so mehr kam
sie zu der Überzeugung, daß dieses Mädchen wirklich das ideale Wesen sei, als das es ihr erschien, und um so
sehnlicher wünschte sie mit ihr bekannt zu werden.
Die beiden Mädchen begegneten einander mehrmals täglich, und bei jeder
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