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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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ich mich«, sagte er. »In diesem Falle bitte ich um Verzeihung.«
    »Nein, Sie irren sich nicht«, erwiderte sie langsam und blickte voll Verzweiflung in sein kaltes Gesicht. »Ich
    war wirklich in Verzweiflung, und auch jetzt kann ich mich vor der Verzweiflung nicht retten. Ich höre Sie reden
    und denke an ihn. Ich liebe ihn, ich bin seine Geliebte; Sie sind mir unerträglich, ich fürchte mich vor Ihnen, ich
    hasse Sie ... Machen Sie mit mir, was Sie wollen.«
    Sie lehnte sich in eine Ecke des Wagens zurück, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte. Alexei
    Alexandrowitsch saß da, ohne sich zu regen, und blickte unverändert wie vorher geradeaus. Aber sein ganzes Gesicht
    nahm plötzlich die feierliche Starrheit einer Leiche an und behielt diesen Ausdruck während der ganzen Fahrt bis
    zum Landhause bei. Als sie sich dem Hause näherten, wendete er seinen Kopf, immer noch mit dem gleichen Ausdrucke,
    nach ihr hin.
    »Nun wohl! Aber ich verlange die Beobachtung des äußeren Anstandes bis zu dem Zeitpunkte«, hier begann seine
    Stimme zu zittern, »wo ich die nötigen Maßnahmen zur Wahrung meiner Ehre getroffen und Ihnen mitgeteilt haben
    werde.«
    Er stieg zuerst aus und war ihr beim Aussteigen behilflich. Mit Rücksicht auf die Dienerschaft drückte er ihr
    die Hand; dann stieg er wieder in den Wagen und fuhr nach Petersburg.
    Gleich nach seiner Abfahrt kam ein Diener von der Fürstin Betsy und überbrachte Anna eine Karte:
    »Ich habe zu Wronski hingeschickt und mich nach seinem Befinden erkundigen lassen; er schreibt mir, er sei
    gesund und unverletzt, aber in Verzweiflung.«
    ›Also wird er kommen‹, sagte sie sich. ›Wie gut habe ich daran getan, dem andern alles zu sagen.‹
    Sie blickte auf die Uhr. Es fehlten noch drei Stunden, und die Erinnerung an die Einzelheiten ihres letzten
    Beisammenseins erhitzte ihr Blut.
    ›Mein Gott, wie hell es ist! Das ist ja ängstlich; aber dann habe ich es auch wieder gern, wenn ich sein Gesicht
    sehen kann, und ich liebe das märchenhafte Licht dieser hellen Nächte ... Mein Mann! Ach ja! ... Nun, Gott sei
    Dank, daß ich mit ihm völlig fertig bin.‹

30
    Wie an allen Orten, wo Menschen einigermaßen zahlreich zusammenkommen, so vollzog sich auch in dem kleinen
    deutschen Badeorte, den die Familie Schtscherbazki aufgesucht hatte, der übliche sozusagen soziale
    Kristallisationsprozeß, der jedem Mitgliede der menschlichen Gesellschaft einen festen, unveränderlichen Platz
    anweist. Wie nach festem, unveränderlichem Gesetze ein Wasserteilchen bei Kälte die bestimmte Form eines
    Schneekristalls erhält, so nahm auch jede neue Persönlichkeit, die in dem Badeorte ankam, sofort den ihr
    zukommenden Platz ein.
    »Fürst Schtscherbazki samt Gemahlin und Tochter« kamen auf Grund der von ihnen gemieteten Wohnung und auf Grund
    ihres Namens und auf Grund des Ranges der Bekannten, die sie dort vorfanden, durch diese Kristallisation sofort an
    ihren bestimmten, gottgewollten Platz.
    In dem Badeorte befand sich in diesem Jahre eine wirkliche deutsche Fürstin, und infolgedessen vollzog sich die
    Kristallisation der Gesellschaft noch wirksamer als zu andern Zeiten. Die Fürstin Schtscherbazkaja wünschte
    durchaus, ihre Tochter der hohen Frau vorzustellen, und vollzog diesen Akt wirklich schon am zweiten Tage. Kitty
    verneigte sich tief und anmutig in ihrem aus Paris verschriebenen »sehr einfachen«, das heißt höchst eleganten
    Sommerkleide. Die deutsche Fürstin sagte: »Ich hoffe, daß die Rosen bald auf dieses hübsche Gesichtchen
    zurückkehren werden«, und nun waren die Schtscherbazkis sofort auf ein bestimmtes Geleise der Lebenshaltung
    gestellt, aus dem herauszukommen nicht mehr möglich war. Schtscherbazkis wurden auch mit einer englischen Lady und
    ihrer Familie bekannt, und mit einer deutschen Gräfin und ihrem Sohne, der im letzten Kriege verwundet worden war,
    und mit einem schwedischen Gelehrten und mit einem Monsieur Canut und seiner Schwester. Hauptsächlich aber
    verkehrten Schtscherbazkis (das hatte sich ganz von selbst so gemacht) mit einer Moskauer Dame, Marja Jewgenjewna
    Rtischtschewa, und ihrer Tochter, die Kitty unsympathisch war, weil sie, ebenso wie sie selbst, an Liebeskummer
    krankte, und mit einem Moskauer Obersten, den Kitty von ihrer Kindheit an nur in Uniform und mit Achselstücken
    gesehen und gekannt hatte und der hier mit seinen kleinen Augen und dem offenen Hals und der bunten Krawatte recht
    komisch aussah und außerdem

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