Anna Karenina
lange ihrer neuen Freundin schweigend die Hand, die jedoch
den Druck nicht erwiderte, sondern regungslos in der ihrigen lag. Aber wenn auch die Hand den Druck nicht
erwiderte, so glänzte doch Mademoiselle Warjenkas Gesicht von einem stillen, frohen, wiewohl ein wenig trüben
Lächeln, das ihre großen, aber schönen Zähne sichtbar werden ließ.
»Ich habe das selbst schon lange gewünscht«, sagte sie.
»Aber Sie sind so in Anspruch genommen ...«
»Ach, im Gegenteil, ich habe gar nichts zu tun«, versetzte Warjenka; aber in demselben Augenblicke mußte sie
sich von ihren neuen Bekannten trennen, weil zwei kleine Mädchen, die Töchter eines kranken Russen, auf sie
zugelaufen kamen.
»Warjenka, Mama ruft!« schrien sie.
Und Warjenka folgte ihnen.
Fußnoten
1 (frz.) Sympathien, Schwärmereien.
2 (frz.) Günstlinge, Schützlinge.
3 (frz.) seine Begleiterin.
32
Die Einzelheiten, die die Fürstin über Warjenkas Vergangenheit und über ihre Beziehungen zu Madame Stahl in
Erfahrung gebracht hatte, waren folgende.
Madame Stahl, von der die einen sagten, sie habe ihren Mann zu Tode gequält, die andern, er habe sie durch
seinen sittenlosen Lebenswandel unglücklich gemacht, war immer eine kränkliche, überspannte Frau gewesen. Als sie,
bereits nach der Scheidung von ihrem Manne, ihr erstes Kind gebar, starb dieses gleich nach der Geburt, und ihre
Verwandten, die ihre hochgradige Erregbarkeit kannten und fürchteten, daß diese Nachricht ihr den Tod bringen
könne, schoben ihr ein anderes Kind unter; sie wählten dazu das in derselben Nacht und in demselben Hause in
Petersburg geborene Töchterchen eines Hofkoches. Dies war Warjenka. Madame Stahl erfuhr in der Folge, daß Warjenka
nicht ihre Tochter sei; aber sie zog sie dennoch weiter auf, um so mehr, da Warjenka bald darauf ihre beiden Eltern
verlor und auch sonst keine nahen Verwandten hatte.
Madame Stahl lebte nun schon mehr als zehn Jahre ununterbrochen im Auslande, im Süden, und verließ fast nie das
Bett. Manche sagten, Madame Stahl habe sich geflissentlich eine Stellung in der Gesellschaft als tugendhafte, tief
religiöse Frau geschaffen; andere waren überzeugt, daß sie wirklich im Grunde ihres Herzens jenes sittlich
hochstehende, nur für das Wohl der Mitmenschen lebende Wesen sei, als das sie sich darstellte. Niemand wußte,
welcher Konfession sie angehörte, ob der katholischen oder der protestantischen oder der rechtgläubigen; aber eins
war unzweifelhaft: sie stand in freundschaftlichen Beziehungen zu den höchsten Persönlichkeiten aller Kirchen und
Bekenntnisse.
Warjenka lebte mit ihr beständig im Auslande, und alle, die Madame Stahl kannten, kannten auch Mademoiselle
Warjenka, wie alle sie nannten, und hatten sie gern.
Nachdem die Fürstin alle diese Einzelheiten erfahren hatte, fand sie in einer Annäherung ihrer Tochter an
Warjenka nichts Bedenkliches, um so weniger, da Warjenka gute Manieren und eine vortreffliche Bildung besaß; sie
sprach ausgezeichnet Französisch und Englisch. Und was die Hauptsache war: sie überbrachte von Frau Stahl den
Ausdruck ihres Bedauerns, daß sie wegen ihrer Krankheit das Vergnügen entbehren müsse, die Bekanntschaft der
Fürstin zu machen.
Nachdem Kitty so mit Warjenka einmal bekannt geworden war, fühlte sie sich von ihrer Freundin immer mehr und
mehr bezaubert und entdeckte an ihr alle Tage neue Vorzüge.
Die Fürstin, die gehört hatte, Warjenka singe sehr gut, bat sie, ob sie nicht am Abend zu ihnen kommen und etwas
vorsingen wolle.
»Kitty spielt, und wir haben hier ein Klavier, allerdings kein sehr gutes; aber Sie würden uns eine so große
Freude damit machen«, sagte die Fürstin mit einem gemachten Lächeln, durch das sich Kitty jetzt besonders
unangenehm berührt fühlte, da sie schon gemerkt hatte, daß Warjenka überhaupt nicht gern sang. Indessen kam
Warjenka am Abend und brachte ein Notenheft mit. Die Fürstin hatte auch Marja Jewgenjewna mit ihrer Tochter und den
Oberst eingeladen.
Warjenka schien in keiner Weise darüber verlegen zu sein, daß auch Personen, die sie nicht kannte, zugegen
waren, und trat sogleich ans Klavier. Sie konnte sich nicht selbst begleiten, sang aber sehr gut vom Blatte. Kitty,
die gut spielte, begleitete sie.
»Sie besitzen ein ungewöhnliches Talent«, sagte die Fürstin zu Warjenka, nachdem diese das erste Lied sehr schön
vorgetragen hatte.
Auch Marja Jewgenjewna und ihre Tochter bedankten sich bei ihr und lobten ihren
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