Anna Karenina
scheinen vor den Menschen und vor mir selbst und vor Gott, um alle zu betrügen. Nein, nie wieder
lasse ich mich auf so etwas ein. Wenn ich auch schlecht bin, aber wenigstens will ich keine Lügnerin, keine
Betrügerin sein.«
»Aber wer ist denn hier eine Betrügerin?« fragte Warjenka vorwurfsvoll. »Sie reden ja so, als ob ...«
Aber Kittys Anfall von jäher Hitze war noch nicht zu Ende; sie ließ Warjenka nicht ausreden.
»Sie meine ich nicht, Sie meine ich ganz und gar nicht. Sie sind ein Wesen von idealer Vollkommenheit. Ja, ja,
ich weiß, daß Sie ein solches Wesen sind; aber was ist dagegen zu machen, daß ich schlecht bin? Das wäre alles
nicht geschehen, wenn ich nicht schlecht wäre. Nun, dann will ich eben sein, wie ich bin; aber heucheln will ich
nicht mehr. Was geht mich Anna Pawlowna an? Mögen sie leben, wie sie wollen; und ich will auch leben, wie ich will.
Ich kann mich nicht anders machen, als ich bin ... Und all das ist nicht das Richtige, nicht das Richtige ...«
»Was ist denn nicht das Richtige?« fragte Warjenka verständnislos.
»Das alles ist nicht das Richtige. Ich kann nicht anders leben, als mein Herz es mir eingibt; aber Sie und die
andern leben nach Regeln und Grundsätzen. Ich habe Sie liebgewonnen, ganz einfach, ohne jede Absicht, Sie aber mich
wohl nur, um mich zu retten und zu belehren!«
»Sie sind ungerecht«, versetzte Warjenka.
»Ich sage ja nichts über andere; ich rede nur von mir.«
»Kitty!« erscholl die Stimme der Mutter. »Komm doch einmal her und zeige dem Papa deine Blutapfelsinen!«
Mit stolzer Miene nahm Kitty, ohne sich mit ihrer Freundin versöhnt zu haben, das Körbchen mit den
Blutapfelsinen vom Tische und ging zu ihrer Mutter hin.
»Was ist dir? Warum bist du so rot?« fragten Vater und Mutter wie aus einem Munde.
»O nichts!« antwortete sie. »Ich komme gleich wieder!« Damit lief sie zurück.
›Sie ist noch da!‹ dachte sie. ›Was soll ich ihr nur sagen, o mein Gott! Was habe ich getan, was habe ich
gesagt? Warum habe ich sie so gekränkt? Was soll ich nun machen? Was soll ich ihr sagen?‹ dachte Kitty und blieb an
der Tür stehen.
Warjenka saß mit dem Hute auf dem Kopfe am Tische; in den Händen hatte sie den Sonnenschirm und betrachtete die
Feder, die Kitty zerbrochen hatte. Sie hob den Kopf in die Höhe.
»Warjenka, verzeihen Sie mir, bitte, verzeihen Sie mir!« flüsterte Kitty, zu ihr tretend. »Ich weiß gar nicht
mehr, was ich gesagt habe. Ich ...«
»Ich hatte Sie wirklich nicht kränken wollen«, meinte Warjenka lächelnd.
Der Friede war geschlossen. Aber mit der Ankunft des Vaters hatte sich für Kitty jene ganze Welt, in der sie
zuletzt gelebt hatte, verändert. Sie sagte sich zwar nicht von allem los, was sie kennengelernt hatte; aber sie sah
ein, daß sie sich getäuscht hatte, als sie geglaubt hatte, sie könne das sein, was sie sein wollte. Sie erwachte
gleichsam aus einer Betäubung; sie wurde sich der ganzen Schwierigkeit bewußt, sich ohne Heuchelei und Prahlerei
auf der Höhe zu erhalten, zu der sie sich hatte erheben wollen. Außerdem drückte auf ihr Gemüt diese ganze Umgebung
voller Kummer, Krankheiten und Sterbender, in der sie jetzt lebte. Die Anstrengungen, mit denen sie sich hatte
zwingen wollen, all dies zu lieben, erschienen ihr als eine Qual, und sie sehnte sich danach, so bald wie möglich
wieder in frische Luft zu kommen, nach Rußland, nach Jerguschowo, wohin, wie sie aus einem Briefe erfahren hatte,
ihre Schwester Dolly mit den Kindern bereits übergesiedelt war.
Aber ihre Liebe zu Warjenka hatte sich nicht vermindert. Beim Abschied bat Kitty sie inständig, doch zu ihnen
nach Rußland zu Besuch zu kommen.
»Ich komme, wenn Sie verheiratet sein werden«, erwiderte Warjenka.
»Ich heirate nie.«
»Nun, dann komme ich auch niemals.«
»Nun, dann will ich nur deswegen heiraten. Aber denken Sie auch an Ihr Versprechen! Hören Sie wohl?« betonte
Kitty.
Die Voraussage des Arztes hatte sich bewahrheitet. Kitty kehrte in die Heimat, nach Rußland, geheilt zurück. Sie
war zwar nicht mehr so sorglos und heiter wie früher; aber sie war ruhig in ihrem Gemüte. Der Moskauer Kummer war
nur noch eine Erinnerung.
1
Sergei Iwanowitsch Kosnüschew wollte sich von der geistigen Arbeit erholen und reiste daher, statt sich nach
seiner Gewohnheit ins Ausland zu begeben, Ende Mai zu seinem Bruder aufs Land. Nach seiner Überzeugung war das
Leben auf dem Lande das beste, das man sich
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