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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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liebte er auch das
    Landvolk im Gegensatze zu einer Menschenklasse, die er nicht liebte, und ebenso sah er das Landvolk als etwas der
    Menschheit im allgemeinen Gegenüberstehendes an. In seinem Geiste, der alles gern in einen gewissen Zusammenhang
    brachte, hatte er sich bestimmte, scharf umrissene Vorstellungen vom Leben des Landvolkes zurechtgemacht, die er
    allerdings zum Teil aus dem wirklichen Leben des Landvolkes abgeleitet, hauptsächlich aber aus dem Gegensatze
    gebildet hatte. Niemals änderte er seine Meinung über das Landvolk, und niemals geriet sein Wohlwollen für dieses
    ins Wanken.
    Wenn zwischen den Brüdern Meinungsverschiedenheiten in der Beurteilung des Landvolkes zur Sprache kamen, so war
    Sergei Iwanowitsch seinem Bruder immer gerade dadurch überlegen, daß er fest bestimmte Begriffe vom Landvolke, von
    seinem Charakter, von seinen Eigenschaften und Bestrebungen hatte; Konstantin Ljewin hingegen besaß hiervon keine
    bestimmten, unveränderlichen Begriffe, so daß er bei diesen Erörterungen sich leicht auf Widersprüchen mit sich
    selbst ertappen ließ.
    Nach Sergei Iwanowitschs Urteil war sein jüngerer Bruder ein prächtiger junger Mensch, der, wie er sich auf
    französisch ausdrückte, ›le cœur bien placé‹, das Herz auf dem rechten Flecke habe, dessen Denken aber, bei
    allerdings ziemlich rascher Auffassung, doch gar zu sehr von den Eindrücken des Augenblicks abhängig und darum
    nicht frei von Widersprüchen sei. Mit der freundlichen Herablassung des älteren Bruders erklärte er ihm manchmal
    die eigentliche Bedeutung der Dinge, konnte aber an einem Meinungsaustausch mit ihm kein Vergnügen finden, weil
    dieser ihm den Sieg gar zu leicht machte.
    Konstantin Ljewin hielt seinen Bruder für einen Mann von gewaltigem Verstande und hervorragender Bildung, für
    einen edlen Menschen im höchsten Sinne des Wortes, dazu noch mit der Fähigkeit ausgestattet, für das Wohl der
    Gesamtheit zu wirken. Aber je älter er wurde und je genauer er seinen Bruder kennenlernte, um so häufiger kam ihm
    im tiefsten Grunde der Seele der Gedanke, daß diese Fähigkeit, für das Wohl der Gesamtheit zu wirken (eine
    Fähigkeit, deren er sich selbst völlig bar wußte), vielleicht gar kein Vorzug, sondern im Gegenteil ein Mangel sei,
    nicht ein Mangel an guten, ehrlichen, edlen Wünschen und Bestrebungen, sondern ein Mangel an Lebenskraft, ein
    Mangel an dem, was man Herz nennt, ein Mangel an jenem Streben, das den Menschen zwingt, aus all den zahllosen sich
    darbietenden Lebenswegen einen einzigen zu wählen und diesem sein ganzes Interesse zuzuwenden. Je mehr er seinen
    Bruder kennenlernte, um so deutlicher nahm er wahr, daß Sergei Iwanowitsch (ganz ebenso wie viele andere Männer,
    die für das Beste der Gesamtheit wirkten) nicht durch sein Herz zu diesem Interesse am Besten der Gesamtheit
    hingeführt, sondern durch die Tätigkeit des Verstandes zu der Überzeugung von der Zweckmäßigkeit dieser
    Beschäftigung gelangt war und sich eben nur deshalb dieser Beschäftigung widmete. In dieser Auffassung wurde Ljewin
    noch durch die Beobachtung bestärkt, daß seinem Bruder die Fragen nach dem Besten der Gesamtheit und nach der
    Unsterblichkeit der Seele nicht in höherem Grade zu Herzen gingen als die Fragen, die eine Schachpartie oder die
    sinnreiche Bauart einer neuen Maschine betrafen.
    Außerdem brachte für Konstantin Ljewin das Zusammenleben mit seinem Bruder auf dem Lande auch insofern eine
    Unbequemlichkeit mit sich, als Ljewin auf dem Lande, namentlich im Sommer, beständig mit der Wirtschaft zu tun
    hatte und der lange Sommertag nicht ausreichte, um alles, was nötig war, zu schaffen, Sergei Iwanowitsch dagegen
    sich ausruhte. Aber obgleich er sich jetzt ausruhte, das heißt nicht an seinem Buche arbeitete, so war er doch an
    geistige Tätigkeit dermaßen gewöhnt, daß er gern die Gedanken, die ihm kamen, in schöner, gedrängter Form aussprach
    und gern einen Zuhörer dafür hatte. Der gegebene und natürliche Zuhörer aber war sein Bruder. Und darum war es
    trotz der freundschaftlichen Zwanglosigkeit ihres Verkehrs Konstantin peinlich, ihn allein zu lassen. Sergei
    Iwanowitsch liebte es, sich in der prallen Sonne aufs Gras zu legen und, während er sich so braten ließ, gemächlich
    zu plaudern.
    »Du glaubst gar nicht«, sagte er zu seinem Bruder, »welch ein Genuß dieses Faulenzerleben für mich ist. Im Kopfe
    habe ich keinen einzigen Gedanken; alles ist wie ausgefegt.«
    Aber dem

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