Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
überhaupt nur denken konnte. Um dieses Leben gründlich zu genießen, kam
    er jetzt zu seinem Bruder. Konstantin Ljewin war über seine Ankunft sehr erfreut, um so mehr, da er seinen Bruder
    Nikolai für diesen Sommer nicht mehr erwartete. Aber trotz all seiner Liebe und Verehrung für Sergei Iwanowitsch
    war ihm das Zusammenleben mit diesem auf dem Lande nicht recht behaglich. Es war ihm unbehaglich, ja geradezu
    peinlich, zu sehen, welche Stellung sein Bruder dem Landleben gegenüber einnahm. Für Konstantin Ljewin war das
    platte Land die Stätte seines Daseins, das heißt seiner Freuden, seiner Leiden, seiner Arbeit; für Sergei
    Iwanowitsch war das Landleben einerseits eine Erholung von der Arbeit, anderseits ein nützliches Gegengift gegen
    die städtische Verderbtheit, das er mit Genuß und mit dem Bewußtsein seiner Nützlichkeit einnahm. Für Konstantin
    Ljewin war das platte Land deswegen so schön, weil es ihm ein Arbeitsfeld darbot, und zwar ein Feld für eine
    unzweifelhaft nützliche Arbeit; für Sergei Iwanowitsch besonders deswegen, weil es einem dort möglich, ja sogar
    eine Art Pflicht war, sich dem Müßiggange hinzugeben. Außerdem war auch Sergei Iwanowitschs Verhältnis zum Landvolk
    nicht nach Konstantins Geschmack. Sergei Iwanowitsch pflegte zu sagen, er liebe das Landvolk und kenne es genau,
    und unterhielt sich oft mit den Bauern, was er sehr gut, ohne Verstellung und Heuchelei, fertig brachte, und aus
    jedem derartigen Gespräche zog er allgemeine Schlußfolgerungen zum Beweise der Vortrefflichkeit des Landvolkes und
    zum Beweise seiner genauen Kenntnis des Bauernlebens. Eine solche Stellungnahme dem Landvolk gegenüber mißfiel
    Konstantin Ljewin. Für ihn war das Landvolk nur der wichtigste Teilnehmer an der gemeinsamen Arbeit, und trotz
    seiner Achtung vor dem Bauernstande und seiner sozusagen verwandtschaftlichen Liebe zu ihm, die er, wie er selbst
    sagte, wahrscheinlich mit der Milch seiner bäuerlichen Amme eingesogen hatte, war er mit diesem Mitarbeiter
    keineswegs zufrieden: mitunter zwar geriet er in Entzücken über die Kraft, die Sanftmut und das
    Gerechtigkeitsgefühl dieser Leute; aber sehr oft, wenn bei der gemeinsamen Arbeit auch noch andere Eigenschaften
    erfordert wurden, packte ihn ein wahrer Ingrimm über dieses Volk wegen seiner Achtlosigkeit, Unordentlichkeit,
    Trunksucht und Verlogenheit. Hätte jemand Konstantin Ljewin gefragt, ob er das Landvolk liebe, so würde er
    entschieden nicht gewußt haben, was er darauf antworten solle. Er liebte das Landvolk und liebte es auch wieder
    nicht, gerade wie er es mit der Menschheit im allgemeinen tat. Selbstverständlich konnte man von ihm, einem so
    gutherzigen Menschen, mit größerem Rechte sagen, daß er die Menschheit liebte, als daß er sie nicht liebte; und
    geradeso war es deshalb auch mit seiner Stellung dem Landvolke gegenüber. Aber das Landvolk wie ein besonderes
    Wesen zu lieben oder nicht zu lieben, dazu war er nicht imstande, nicht nur weil er mit dem Landvolke lebte und
    alle seine Interessen mit denen des Landvolkes eng verknüpft waren, sondern auch weil er sich selbst als einen Teil
    des Landvolkes betrachtete, zwischen sich und dem Landvolke keinen eigentlichen Unterschied in bezug auf gute und
    schlechte Eigenschaften wahrnahm und seine Person dem Landvolke nicht als etwas grundsätzlich Verschiedenes
    gegenüberzustellen vermochte. Dazu kam noch folgendes: Obgleich er lange Zeit in den engsten Beziehungen mit den
    Bauern gelebt hatte, als Gutsherr und als Schiedsrichter und ganz besonders als Ratgeber (denn die Bauern hatten
    Vertrauen zu ihm und kamen von vierzig Werst weit her, um ihn um Rat zu fragen), so hatte er trotzdem ganz und gar
    kein bestimmtes Urteil über das Landvolk und würde durch die Frage, ob er das Landvolk kenne, ebenso in
    Verlegenheit gesetzt worden sein wie durch die Frage, ob er das Landvolk liebe. Zu behaupten, daß er das Landvolk
    kenne, hätte für ihn auf derselben Stufe gestanden, wie zu behaupten, daß er die Menschen kenne. Er stellte
    beständig seine Beobachtungen an und lernte Menschen von jeder Art kennen (darunter auch aus dem Bauernstande
    Leute, die er für brave, interessante Menschen halten mußte), entdeckte unaufhörlich an ihnen neue Charakterzüge,
    änderte sein früheres Urteil über sie und bildete sich ein neues. Ganz anders Sergei Iwanowitsch. Gerade wie er das
    Landleben liebte und pries im Gegensatz zu einem Leben, das er nicht liebte, genau ebenso

Weitere Kostenlose Bücher