Anna Karenina
überhaupt nur denken konnte. Um dieses Leben gründlich zu genießen, kam
er jetzt zu seinem Bruder. Konstantin Ljewin war über seine Ankunft sehr erfreut, um so mehr, da er seinen Bruder
Nikolai für diesen Sommer nicht mehr erwartete. Aber trotz all seiner Liebe und Verehrung für Sergei Iwanowitsch
war ihm das Zusammenleben mit diesem auf dem Lande nicht recht behaglich. Es war ihm unbehaglich, ja geradezu
peinlich, zu sehen, welche Stellung sein Bruder dem Landleben gegenüber einnahm. Für Konstantin Ljewin war das
platte Land die Stätte seines Daseins, das heißt seiner Freuden, seiner Leiden, seiner Arbeit; für Sergei
Iwanowitsch war das Landleben einerseits eine Erholung von der Arbeit, anderseits ein nützliches Gegengift gegen
die städtische Verderbtheit, das er mit Genuß und mit dem Bewußtsein seiner Nützlichkeit einnahm. Für Konstantin
Ljewin war das platte Land deswegen so schön, weil es ihm ein Arbeitsfeld darbot, und zwar ein Feld für eine
unzweifelhaft nützliche Arbeit; für Sergei Iwanowitsch besonders deswegen, weil es einem dort möglich, ja sogar
eine Art Pflicht war, sich dem Müßiggange hinzugeben. Außerdem war auch Sergei Iwanowitschs Verhältnis zum Landvolk
nicht nach Konstantins Geschmack. Sergei Iwanowitsch pflegte zu sagen, er liebe das Landvolk und kenne es genau,
und unterhielt sich oft mit den Bauern, was er sehr gut, ohne Verstellung und Heuchelei, fertig brachte, und aus
jedem derartigen Gespräche zog er allgemeine Schlußfolgerungen zum Beweise der Vortrefflichkeit des Landvolkes und
zum Beweise seiner genauen Kenntnis des Bauernlebens. Eine solche Stellungnahme dem Landvolk gegenüber mißfiel
Konstantin Ljewin. Für ihn war das Landvolk nur der wichtigste Teilnehmer an der gemeinsamen Arbeit, und trotz
seiner Achtung vor dem Bauernstande und seiner sozusagen verwandtschaftlichen Liebe zu ihm, die er, wie er selbst
sagte, wahrscheinlich mit der Milch seiner bäuerlichen Amme eingesogen hatte, war er mit diesem Mitarbeiter
keineswegs zufrieden: mitunter zwar geriet er in Entzücken über die Kraft, die Sanftmut und das
Gerechtigkeitsgefühl dieser Leute; aber sehr oft, wenn bei der gemeinsamen Arbeit auch noch andere Eigenschaften
erfordert wurden, packte ihn ein wahrer Ingrimm über dieses Volk wegen seiner Achtlosigkeit, Unordentlichkeit,
Trunksucht und Verlogenheit. Hätte jemand Konstantin Ljewin gefragt, ob er das Landvolk liebe, so würde er
entschieden nicht gewußt haben, was er darauf antworten solle. Er liebte das Landvolk und liebte es auch wieder
nicht, gerade wie er es mit der Menschheit im allgemeinen tat. Selbstverständlich konnte man von ihm, einem so
gutherzigen Menschen, mit größerem Rechte sagen, daß er die Menschheit liebte, als daß er sie nicht liebte; und
geradeso war es deshalb auch mit seiner Stellung dem Landvolke gegenüber. Aber das Landvolk wie ein besonderes
Wesen zu lieben oder nicht zu lieben, dazu war er nicht imstande, nicht nur weil er mit dem Landvolke lebte und
alle seine Interessen mit denen des Landvolkes eng verknüpft waren, sondern auch weil er sich selbst als einen Teil
des Landvolkes betrachtete, zwischen sich und dem Landvolke keinen eigentlichen Unterschied in bezug auf gute und
schlechte Eigenschaften wahrnahm und seine Person dem Landvolke nicht als etwas grundsätzlich Verschiedenes
gegenüberzustellen vermochte. Dazu kam noch folgendes: Obgleich er lange Zeit in den engsten Beziehungen mit den
Bauern gelebt hatte, als Gutsherr und als Schiedsrichter und ganz besonders als Ratgeber (denn die Bauern hatten
Vertrauen zu ihm und kamen von vierzig Werst weit her, um ihn um Rat zu fragen), so hatte er trotzdem ganz und gar
kein bestimmtes Urteil über das Landvolk und würde durch die Frage, ob er das Landvolk kenne, ebenso in
Verlegenheit gesetzt worden sein wie durch die Frage, ob er das Landvolk liebe. Zu behaupten, daß er das Landvolk
kenne, hätte für ihn auf derselben Stufe gestanden, wie zu behaupten, daß er die Menschen kenne. Er stellte
beständig seine Beobachtungen an und lernte Menschen von jeder Art kennen (darunter auch aus dem Bauernstande
Leute, die er für brave, interessante Menschen halten mußte), entdeckte unaufhörlich an ihnen neue Charakterzüge,
änderte sein früheres Urteil über sie und bildete sich ein neues. Ganz anders Sergei Iwanowitsch. Gerade wie er das
Landleben liebte und pries im Gegensatz zu einem Leben, das er nicht liebte, genau ebenso
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