Anna Karenina
hin. Der Fürst ging auf sie zu, und sogleich
bemerkte Kitty wieder in seinen Augen das spöttische Aufleuchten, das ihr so befremdend war. Er trat an Madame
Stahl heran und redete sie in jenem ausgezeichneten Französisch, das heutzutage nicht mehr viele zu sprechen
verstehen, mit vollendeter Höflichkeit und Liebenswürdigkeit an.
»Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern; aber ich muß mich Ihnen ins Gedächtnis zurückrufen, um Ihnen
für die Güte, die Sie meiner Tochter erwiesen haben, zu danken«, sagte er, wobei er den Hut ab genommen hatte und
nicht wieder aufsetzte.
»Fürst Alexander Schtscherbazki«, antwortete Madame Stahl und hob ihre himmlischen Augen zu ihm in die Höhe, in
denen Kitty aber einen gewissen Ausdruck von Mißvergnügen zu bemerken glaubte. »Ich freue mich sehr. Ich habe Ihre
Tochter so sehr liebgewonnen.«
»Ihr Befinden ist noch immer nicht nach Wunsch?«
»Ach, daran bin ich schon gewöhnt«, erwiderte Madame Stahl und stellte den Fürsten und den schwedischen Grafen
einander vor.
»Sie haben sich sehr wenig verändert«, sagte der Fürst zu ihr. »Ich habe seit zehn oder elf Jahren nicht die
Ehre gehabt, Sie zu sehen.«
»Ja, Gott legt uns das Kreuz auf, aber er verleiht uns auch die Kraft, es zu tragen. Man wundert sich oft, wozu
sich dieses Leben so lange hinzieht ... Von der andern Seite!« wandte sie sich ärgerlich an Warjenka, die es ihr
beim Einhüllen der Beine in ein Tuch nicht nach Wunsch machte.
»Doch gewiß, damit Sie noch viel Gutes tun können«, versetzte der Fürst; seine Augen lachten.
»Darüber zu urteilen, steht uns nicht zu«, erwiderte Frau Stahl, der die leise Färbung in dem Gesichtsausdruck
des Fürsten nicht entgangen war. »Also Sie werden mir dieses Buch schicken, lieber Graf? Ich bin Ihnen sehr dankbar
dafür«, wandte sie sich an den jungen Schweden.
»Ah!« rief der Fürst, als er den Moskauer Obersten erblickte, der in ihrer Nähe stand. Er verbeugte sich vor
Frau Stahl, trat mit seiner Tochter von ihr zurück und ging mit dem Obersten, der sich ihnen anschloß, weiter.
»Das ist nun unsere Aristokratie, Fürst!« bemerkte in dem Wunsche, sarkastisch zu sein, der Moskauer Oberst, der
über Frau Stahl scharf urteilte, weil er nicht zu ihren Bekannten gehörte.
»Sie ist immer noch dieselbe«, antwortete der Fürst.
»Sie haben sie wohl noch vor ihrer Krankheit gekannt, Fürst? Ich meine, bevor sie sich für die Dauer hingelegt
hat?«
»Ja. Ich besinne mich noch auf die näheren Umstände, als sie sich legte.«
»Es heißt, sie stände seit zehn Jahren nicht mehr auf ...«
»Sie steht nicht auf, weil sie sehr kurze Beine hat; sie ist recht schlecht gebaut ...«
»Papa, das ist nicht möglich!« rief Kitty.
»Böse Zungen wollen das behaupten, mein Herzchen. Und deine Warjenka hat auch bei ihr ein schweres Dasein«,
fügte er hinzu. »Ja, ja, diese kranken Damen!«
»O nein, Papa«, erwiderte Kitty eifrig. »Warjenka vergöttert sie. Und dann tut sie so viel Gutes! Da kannst du
fragen, wen du willst! Sie und Aline Stahl sind überall bekannt.«
»Das kann ja sein«, sagte er und drückte mit seinem Ellbogen ihren Arm. »Aber noch besser ist es, das Gute so zu
tun, daß niemand, man mag fragen, wen man will, davon weiß.«
Kitty schwieg; sie hätte wohl etwas zu erwidern gehabt; aber auch dem Vater mochte sie ihre geheimsten Gedanken
nicht enthüllen. Aber seltsam: obwohl sie sich dagegen sträubte, sich der Ansicht ihres Vaters unterzuordnen und
sie in ihr innerstes Heiligtum aufzunehmen, so fühlte sie doch, daß jenes gottähnliche Bild der Frau Stahl, das sie
einen ganzen Monat lang in ihrer Seele getragen hatte, unwiederbringlich verschwunden war, so wie eine Gestalt, die
wir in einem hingeworfenen Kleide zu sehen glaubten, verschwindet, sobald wir uns darüber klarwerden, wie das leere
Kleid in Wirklichkeit daliegt. Es blieb nur eine kurzbeinige Frau übrig, die dauernd lag, weil sie eine schlechte
Figur hatte, und die fügsame Warjenka quälte, wenn sie ihr das Tuch nicht nach Wunsch umwickelte. Und wie sie auch
ihre Einbildungskraft anstrengte, es war ihr nicht mehr möglich, sich das frühere Bild der Madame Stahl
wiederherzustellen.
Fußnoten
1 (frz.) Lassen Sie uns gehen!
35
Der Fürst steckte alle Leute mit seiner fröhlichen Stimmung an: seine Angehörigen, seine Bekannten und sogar den
deutschen Wirt, bei dem Schtscherbazkis wohnten.
Als er mit Kitty vom Brunnen zurückgekehrt
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