Anna Karenina
sie und sprang auf. Ihre Tränen zurückdrängend,
ging sie zum Schreibtisch, um einen anderen Brief an ihn zu schreiben. Aber im tiefsten Grunde ihrer Seele fühlte
sie schon, daß sie nicht die Kraft haben werde, etwas zu zerreißen, nicht die Kraft haben werde, aus der bisherigen
Lage herauszukommen, wie lügnerisch und ehrlos diese auch sein mochte.
Sie setzte sich an den Schreibtisch; aber statt zu schreiben, verschränkte sie die Arme auf dem Tische, legte
den Kopf darauf und weinte; sie weinte mit starkem Schluchzen und mit heftigen Bewegungen der ganzen Brust, so wie
Kinder weinen. Sie weinte darüber, daß ihre Hoffnung auf eine Klärung und Neuordnung ihrer Lage für alle Zeit
zerstört war. Sie wußte im voraus, daß nun alles beim alten bleiben, ja noch weit schlimmer sein werde als bisher.
Sie fühlte, daß die Stellung, die sie in der Welt einnahm und die ihr noch an diesem Morgen so nichtig und wertlos
erschienen war, doch für sie von Wert war und daß sie es nicht über sich gewinnen werde, sie mit der schmählichen
Stellung einer Frau zu vertauschen, die ihren Mann und ihren Sohn verlassen und sich mit ihrem Liebhaber vereinigt
hat, und daß sie, mochte sie sich auch noch so sehr anstrengen, doch niemals stärker sein werde, als sie nun eben
von Natur war. Niemals würde sie in die Lage kommen, frei und offen lieben zu können; sie würde immer die
verbrecherische Gattin bleiben, die, jeden Augenblick in Gefahr, entlarvt zu werden, ihren Mann betrog, um in einer
schmählichen Beziehung mit einem fremden, durch nichts gebundenen Mann zu stehen, mit dem sie niemals ein
gemeinsames Leben führen konnte. Sie wußte, daß es so kommen werde, und zugleich war es ihr so entsetzlich, daß sie
sich gar keine Vorstellung davon zu machen vermochte, wie das Ende sein werde. Und sie weinte, ohne einen Versuch,
sich zu beherrschen, so wie bestrafte Kinder weinen.
Sie vernahm die Schritte des herbeikommenden Dieners und zwang sich zu ruhigerer Haltung. Indem sie ihm ihr
Gesicht verbarg, stellte sie sich, als ob sie schriebe.
»Der Kurier bittet um Antwort«, meldete der Diener.
»Antwort? Jawohl«, antwortete Anna. »Er soll noch warten. Ich werde klingeln.«
›Was kann ich schreiben?‹ dachte sie. ›Welchen Entschluß kann ich so allein fassen? Was weiß ich? Was will ich?
Was möchte ich?‹ Und wieder hatte sie die Empfindung, als ob sich in ihrer Seele etwas verdoppele. Sie erschrak
wieder vor diesem Gefühle und griff begierig nach dem ersten sich darbietenden Anlasse, etwas zu tun, in der
Absicht, sich von den Gedanken über sich und ihr Schicksal abzulenken. ›Ich muß Alexei sehen (so nannte sie in
Gedanken Wronski); er allein kann mir sagen, was ich tun soll. Ich will zu Betsy fahren; vielleicht treffe ich ihn
dort‹, sagte sie zu sich, vergaß aber dabei vollständig, daß sie ihm noch tags zuvor gesagt hatte, sie werde nicht
zur Fürstin Twerskaja fahren, und er darauf erwidert hatte, daß er dann auch nicht hinkommen werde. Sie trat an den
Tisch und schrieb ihrem Manne: »Ich habe Ihren Brief erhalten. A.« Darauf klingelte sie und übergab das Schreiben
dem Diener.
»Wir reisen nicht«, sagte sie zu der eintretenden Annuschka.
»Überhaupt nicht?«
»Das kann ich noch nicht bestimmen; vor morgen soll noch nicht wieder ausgepackt werden. Der Wagen soll noch
dableiben; ich will zur Fürstin fahren.«
»Welches Kleid soll ich bringen?«
17
Die Spielgesellschaft bei der Krocketpartie, zu der die Fürstin Twerskaja Anna eingeladen hatte, sollte aus zwei
Damen und den Verehrern der einen bestehen. Diese beiden Damen waren die wichtigsten Mitglieder eines neuen,
adelsstolzen Petersburger Kreises, der in Nachahmung einer Nachahmung les sept merveilles du monde 1 genannt wurde. Der Kreis, dem diese Damen angehörten, war
allerdings sehr hoch, stand aber dem, wo Anna zu verkehren pflegte, durchaus feindlich gegenüber. Außerdem war der
alte Stremow, der Verehrer von Lisa Merkalowa und einer der einflußreichsten Männer in Petersburg, auf dem Gebiete
der amtlichen Tätigkeit ein Gegner Alexei Alexandrowitschs. Aus allen diesen Gründen hatte Anna ursprünglich nicht
hinkommen wollen, und auf diese ihre ablehnende Antwort bezogen sich die Andeutungen in dem Schreiben der Fürstin
Twerskaja. Jetzt aber beabsichtigte Anna, in der Hoffnung, Wronski dort zu treffen, doch hinzufahren.
Anna kam bei der Fürstin Twerskaja früher an als die anderen Gäste.
In dem
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