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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Augenblicke, als sie ins Haus trat, wollte gerade auch Wronskis Diener hineingehen, der mit seinem nach
    beiden Seiten auseinandergekämmten Backenbarte wie ein Kammerjunker aussah. Er blieb an der Tür stehen, nahm die
    Mütze ab und ließ sie vorangehen. Anna erkannte ihn, und erst jetzt fiel ihr ein, daß ja Wronski am vorhergehenden
    Tage gesagt hatte, er werde nicht hinkommen. Wahrscheinlich enthielt das Schreiben, das er durch den Diener
    schickte, seine Absage.
    Während sie im Vorzimmer ablegte, hörte sie, wie der Diener, der sogar das R wie ein Kammerjunker aussprach,
    sagte: »Vom Grafen für die Fürstin«, und das Schreiben übergab.
    Sie hätte ihn gern gefragt, wo sein Herr sei. Sie wäre gern wieder umgekehrt und hätte ihm einen Brief
    geschrieben, daß er zu ihr kommen möchte, oder wäre auch selbst zu ihm gefahren. Aber weder das eine noch das
    andere noch das dritte ließ sich ausführen: denn schon erscholl vorn das Glockenzeichen, das ihre Ankunft
    ankündigte, und ein Diener der Fürstin Twerskaja stand schon halb zugewandt an der geöffneten Tür und wartete
    darauf, daß sie in die inneren Gemächer einträte.
    »Die Frau Fürstin befindet sich im Garten; es wird bereits gemeldet. Ist es vielleicht gefällig, sich in den
    Garten zu begeben?« meldete ein zweiter Diener im zweiten Zimmer.
    Sie fühlte sich hier ganz ebenso unentschlossen und unklar wie zu Hause; ja dieser Zustand war hier sogar
    insofern noch schlimmer, als sie nichts unternehmen, nicht mit Wronski zusammenkommen konnte, sondern sich hier in
    einer fremden, zu ihrer Gemütsverfassung so wenig stimmenden Gesellschaft bewegen mußte; aber sie war in einem
    Kleide, das, wie sie wußte, ihr gut stand; sie war nicht allein, sondern fand sich mitten in diesem gewohnten
    prunkenden Getriebe des Müßigganges: und deshalb war ihr leichter zumute als zu Hause. Sie brauchte hier nicht
    darüber nachzudenken, was sie tun müsse. Alles machte sich ganz von selbst. Als Betsy ihr in einem weißen Kleide
    entgegenkam, von dessen vornehmem Geschmack sie überrascht war, lächelte ihr Anna zu wie immer. Begleitet wurde die
    Fürstin Twerskaja von Tuschkewitsch und einer mit ihr verwandten jungen Dame, die zur höchsten Glückseligkeit ihrer
    in der Provinz lebenden Eltern den Sommer bei der berühmten Fürstin verleben durfte.
    Anna mußte wohl irgend etwas Besonderes in ihrem Wesen haben, da Betsy es sogleich bemerkte.
    »Ich habe schlecht geschlafen«, antwortete Anna auf Betsys Frage und blickte nach dem Diener, der auf die
    Herrschaften zukam und, wie sie vermutete, Wronskis Brief brachte.
    »Wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind«, sagte Betsy. »Ich fühle mich so müde und wollte eben eine Tasse Tee
    trinken, bevor meine Gäste kommen. Sie könnten ja«, wandte sie sich zu Tuschkewitsch, »inzwischen mit Mascha
    hingehen und den croquetground 2 probieren, da, wo
    der Rasen geschoren ist. Und wir beide haben noch Zeit, nach Herzenslust ein bißchen beim Tee zu plaudern, we'll
    have a cosy chat, 3 nicht wahr?« wandte sie sich
    lächelnd zu Anna und drückte ihr die Hand, in der diese den Sonnenschirm hielt.
    »Um so mehr, da ich nicht lange bei Ihnen bleiben kann; ich muß unbedingt noch zu der alten Wrede; ich habe es
    ihr schon seit hundert Jahren versprochen«, erwiderte Anna, der das Lügen, wiewohl ihrem eigentlichen Wesen fremd,
    im gesellschaftlichen Verkehr nicht nur geläufig und natürlich geworden war, sondern sogar einen gewissen Genuß
    bereitete. Warum sie das sagte, woran sie doch eine Sekunde vorher noch nicht gedacht gehabt hatte, das hätte sie
    nicht erklären können. Sie hatte dabei nur den Gedanken gehabt: da Wronski nicht hierherkommen werde, so müsse sie
    sich Freiheit bewahren und den Versuch machen, ihn sonst irgendwie zu treffen. Aber warum sie gerade das alte
    Hoffräulein Wrede genannt hatte, bei der ein Besuch gleich dringlich oder gleich wenig dringlich war wie bei vielen
    anderen, dafür hätte sie keine Erklärung zu geben gewußt. Und doch hätte sie, wie sich später herausstellte, und
    wenn sie auch nach den schlausten Mitteln zu einer Zusammenkunft mit Wronski gesucht hätte, kein besseres ersinnen
    können.
    »Nein, unter keinen Umständen lasse ich Sie fort«, antwortete Betsy und blickte ihr dabei forschend ins Gesicht.
    »Wirklich, wenn ich Sie nicht so lieb hätte, würde ich es Ihnen übelnehmen, daß Sie fort wollen. Das sieht ja
    gerade aus, als ob Sie fürchteten, durch die

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