Anna Karenina
meldete Annuschka, die zurückkehrte und Anna noch nicht
weiter angekleidet fand.
»Sergei? Was macht Sergei?« fragte Anna, auf ein mal lebhafter werdend; zum erstenmal an diesem ganzen Morgen
erinnerte sie sich an das Dasein ihres Sohnes.
»Er hat etwas begangen, glaube ich«, antwortete Annuschka lächelnd.
»Was heißt das: ›er hat etwas begangen‹?«
»Im Eckzimmer hatten Sie eine Schale mit Pfirsichen stehen; davon hat er einen heimlich gegessen, glaube
ich.«
Durch den Gedanken an ihren Sohn wurde Anna auf einmal aus der Verzweiflung herausgerissen, in der sie sich über
ihre Lage befand. Sie gedachte der zum Teil aufrichtigen, wenn auch stark übertriebenen Rolle der nur für ihren
Sohn lebenden Mutter, die sie in den letzten Jahren durchgeführt hatte, und wurde sich mit Freude bewußt, daß sie
trotz ihrer üblen Lage doch ein Gebiet hatte, das von ihrem Verhältnisse zu ihrem Manne und zu Wronski unabhängig
war. Dieses Gebiet war ihr Sohn. Wie sich ihre eigene Lage auch gestalten mochte, ihren Sohn konnte sie nicht
verlassen. Mochte ihr Mann sie auch der Schande preisgeben und verstoßen, mochte auch Wronski gegen sie kalt werden
und sein unabhängiges Leben fortsetzen (wieder war die Erinnerung an ihn mit Vorwürfen und mit Bitterkeit
verbunden), von ihrem Sohne konnte sie sich nicht lossagen. Sie hatte einen Lebenszweck, und sie mußte handeln,
handeln, um dieses Verhältnis zu ihrem Sohne zu sichern, damit man ihn ihr nicht nehmen könne. Sie mußte sogar
schnell handeln, so schnell wie nur irgend möglich, ehe man ihn ihr noch genommen hatte. Sie mußte ihren Sohn
nehmen und mit ihm wegreisen. Das war das einzige, was sie jetzt tun konnte und mußte. Sie mußte zur Ruhe gelangen
und aus dieser qualvollen Lage herauskommen. Der Gedanke an ein eigenes Handeln, das ihren Sohn betraf, und an die
sofortige Abreise mit ihm nach einem noch unbestimmten Ziele verlieh ihr diese notwendige Ruhe.
Sie kleidete sich schnell an, ging hinunter und trat mit festem Schritt in das Wohnzimmer, wo wie gewöhnlich der
Kaffee und Sergei mit seiner Gouvernante auf sie warteten. Sergei, in weißem Anzuge, stand an einem Tische unter
dem Spiegel, den Rücken und den Kopf herabbeugend; mit dem Ausdrucke gespannter Aufmerksamkeit, den sie an ihm
kannte und der ihn seinem Vater ähnlich machte, nahm er mit den Blumen, die er mitgebracht hatte, irgend etwas
vor.
Die Gouvernante machte eine besonders strenge Miene. Sergei rief überlaut, wie er das öfters tat: »Ah, Mama!«
und blieb unschlüssig stehen: sollte er die Blumen hinlegen und zu seiner Mutter gehen, um sie zu begrüßen, oder
sollte er erst den Kranz fertigmachen und dann mit diesem zu ihr gehen.
Die Gouvernante begann nach der Begrüßung langsam und ausführlich das Vergehen zu berichten, das Sergei begangen
hatte; aber Anna hörte ihr nicht zu; sie überlegte unterdessen, ob sie die Gouvernante mitnehmen solle. ›Nein, ich
will sie nicht mitnehmen‹, war das Ergebnis ihrer Überlegung. ›Ich will mit meinem Sohn allein reisen.‹
»Ja, das war sehr unartig«, sagte Anna, faßte ihren Sohn an der Schulter, sah ihn nicht mit einem strengen,
sondern vielmehr mit einem schüchternen Blicke an, der den Knaben in Verlegenheit setzte und erfreute, und küßte
ihn. »Lassen Sie ihn nur bei mir!« sagte sie zu der verwunderten Gouvernante und setzte sich, ohne die Hand ihres
Sohnes loszulassen, an den Kaffeetisch, auf dem alles bereit war.
»Mama, ich ... ich wollte nicht ...«, sagte er und versuchte aus ihrem Gesichtsausdruck zu erraten, was seiner
für den Pfirsich warte.
»Sergei«, sagte sie, sobald die Gouvernante das Zimmer verlassen hatte, »das war unartig; aber du wirst es nicht
wieder tun, nicht wahr? ... Du hast mich doch lieb?«
Sie fühlte, daß ihr die Tränen in die Augen traten. ›Ist es denn denkbar, daß ich ihn jemals nicht mehr lieben
sollte?‹ sagte sie zu sich selbst, während sie in seine erschrockenen und zugleich freudig aufleuchtenden Augen
tief hineinschaute. ›Sollte er wirklich je mit seinem Vater eines Sinnes darin werden, über mich den Stab zu
brechen? Wird er wirklich mit mir kein Mitleid haben?‹ Die Tränen liefen ihr schon über das Gesicht, und um sie zu
verbergen, stand sie plötzlich auf und eilte, fast laufend, auf die Terrasse hinaus.
Nach dem Gewitterregen der letzten Tage war kühles, klares Wetter eingetreten. Trotz des hellen Sonnenscheins,
der durch das vom Regen blank
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