Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
gewaschene Laubwerk der Bäume drang, war es in der Luft kalt.
    Sie schauderte zusammen, sowohl vor Kälte wie auch infolge der inneren Angst, die sie in der reinen Luft mit
    neuer Kraft überfiel.
    »Geh zu Mariette, geh!« sagte sie zu Sergei, der hinter ihr her herausgekommen war, und begann auf der
    Strohmatte, die auf der Terrasse lag, auf und ab zu gehen. ›Werden die Menschen mir denn wirklich nicht verzeihen
    und nicht verstehen, daß das alles so kommen mußte, mußte?‹ fragte sie sich selbst.
    Sie blieb stehen und blickte nach den im Winde schwankenden Wipfeln der Eichen mit den reingewaschenen, im
    kalten Sonnenschein glänzenden Blättern, und sie war überzeugt, daß die Menschen ihr nicht verzeihen würden, daß
    alles und alle jetzt gegen sie ebenso erbarmungslos sein würden wie dieser Himmel und wie dieses Grün. Und wieder
    hatte sie die Empfindung, daß sich in ihrer Seele etwas zu verdoppeln anfange. ›Nur nicht denken, nur nicht
    denken!‹ sagte sie bei sich. ›Ich muß mich zur Reise fertigmachen. Wohin soll ich reisen? Wann? Wen soll ich
    mitnehmen? Ja, ich will nach Moskau fahren, mit dem Abendzug. Annuschka und Sergei will ich mitnehmen, und nur die
    notwendigsten Sachen. Aber vorher muß ich an beide schreiben.‹ Schnell ging sie ins Haus, in ihr Zimmer, setzte
    sich an den Tisch und schrieb an ihren Mann:
    »Nach dem, was vorgefallen ist, kann ich nicht länger in Ihrem Hause bleiben. Ich reise ab und nehme meinen Sohn
    mit. Ich kenne die gesetzlichen Bestimmungen nicht und weiß daher nicht, bei wem von den Eltern der Sohn bleiben
    muß; aber ich nehme ihn mit, weil ich ohne ihn nicht leben kann. Seien Sie großmütig und lassen Sie ihn mir!«
    Bis dahin hatte sie schnell, und wie es ihr in die Feder kam, geschrieben; aber der Appell an seine Großmut, die
    sie bei ihm gar nicht für ein mögliches Gefühl hielt, und anderseits die Notwendigkeit, dem Briefe irgendeinen
    rührenden Schluß zu geben, brachten sie zum Stocken.
    »Von meiner Schuld und meiner Reue kann ich nicht reden, weil ...«
    Wieder hielt sie inne, da sie in ihren Gedanken keinen logischen Zusammenhang fand. ›Nein‹, sagte sie bei sich,
    ›so etwas darf ich nicht schreiben.‹ Sie zerriß den Brief, schrieb ihn noch einmal mit Weglassung der Stelle von
    der Großmut und siegelte ihn zu.
    Einen zweiten Brief mußte sie an Wronski schreiben. »Ich habe meinem Manne mitgeteilt«, schrieb sie und saß dann
    lange da, ohne daß sie in sich die Kraft zum Weiterschreiben gefunden hätte. Das war so roh, so unweiblich. ›Und
    dann, was kann ich ihm denn eigentlich schreiben?‹ dachte sie. Wieder überzog Schamröte ihr Gesicht; sie mußte an
    sein ruhiges Wesen denken, und ein Gefühl des Ärgers über ihn veranlaßte sie, den Briefbogen mit dem angefangenen
    Satze in kleine Stücke zu zerreißen. ›Ich brauche ihm gar nichts zu schreiben‹, sagte sie sich; sie legte die
    Briefmappe zusammen, ging hinauf, teilte der Gouvernante und der Dienerschaft mit, daß sie heute nach Moskau fahren
    werde, und machte sich sofort daran, die Sachen zu packen.

16
    In allen Zimmern des Landhauses gingen Hausknechte, Gärtner und Diener umher und trugen Sachen hinaus. Die
    Schränke und die Kommoden waren geöffnet; zweimal war zum Kaufmann geschickt worden, um Stricke zum Packen zu
    holen; der Fußboden lag voll Zeitungspapier. Zwei Koffer, mehrere Säcke und zusammengebundene Reisedecken waren
    schon ins Vorzimmer getragen. Eine Kutsche und zwei Droschken hielten vor der Haustür. Anna, die über der Arbeit
    des Packens ihre innere Unruhe vergessen hatte, stand in ihrem Zimmer am Tische und packte ihre Reisetasche, als
    Annuschka sie auf das Geräusch eines herankommenden Wagens aufmerksam machte. Anna warf einen Blick aus dem Fenster
    und sah an der Haustür Alexei Alexandrowitschs Kurier, der dort die Klingel zog.
    »Geh und sieh zu, was es gibt«, sagte sie; mit ruhiger Ergebung in alles, was da kommen konnte, setzte sie sich
    auf einen Sessel und legte die Hände über den Knien zusammen. Ein Diener brachte einen dicken Brief, dessen
    Anschrift Alexei Alexandrowitschs Handschrift aufwies.
    »Der Kurier soll auf Antwort warten«, sagte er.
    »Gut«, erwiderte sie und riß, sobald er hinausgegangen war, den Brief mit zitternden Fingern auf. Ein Päckchen
    Banknoten, die, ohne zusammengefaltet zu sein, mit einem Papierstreifen umklebt waren, fiel aus ihm heraus. Sie
    entfaltete den Brief und begann, vom Ende anfangend, ihn zu

Weitere Kostenlose Bücher