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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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bestellen und teilte das Geld, das er besaß, nach Maßgabe einiger Rechnungen in
    einzelne Summen. Nachdem er das erledigt hatte, schrieb er seiner Mutter einen kalten, scharfen Antwortbrief.
    Darauf holte er aus seiner Brieftasche drei Briefe heraus, die ihm Anna geschrieben hatte, las sie noch einmal
    durch, verbrannte sie und versank bei der Erinnerung an sein gestriges Gespräch mit ihr in ernstes Nachdenken.

20
    Wronski fühlte sich in seinem Leben besonders infolge davon glücklich, daß er eine Art Kodex von Grundsätzen
    besaß, durch den in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise bestimmt wurde, was er tun und nicht tun mußte. Der
    Kodex dieser Grundsätze umfaßte nur einen sehr kleinen Kreis von Lebensbeziehungen; aber dafür waren auch diese
    Grundsätze keinem Zweifel unterworfen, und Wronski, der nie aus diesem Kreise hinauskam, hatte bei der Ausführung
    dessen, was ihm zu tun oblag, nie auch nur einen Augenblick geschwankt. Diese Grundsätze bestimmten gebieterisch:
    daß man seine Schuld an einen Falschspieler bezahlen müsse, es aber bei einem Schneider nicht zu tun brauche; daß
    man Männer nicht belügen dürfe, wohl aber Frauen; daß es unzulässig sei, jemanden zu betrügen, zulässig sei der
    Betrug aber einem Ehemanne gegenüber; daß man Beleidigungen nicht verzeihen dürfe, aber das Recht habe, andere
    Leute zu beleidigen, und so weiter. Alle diese Grundsätze waren vielleicht unvernünftig und unmoralisch; aber sie
    standen über allem Zweifel, und bei ihrer Befolgung fühlte Wronski, daß sein Gewissen ruhig war und er mit
    aufgerichtetem Kopfe einhergehen konnte. Nur in der allerletzten Zeit war in Wronski über seine Beziehungen zu Anna
    eine Ahnung davon erwacht, daß sein Kodex von Grundsätzen vielleicht nicht alle Lebensbeziehungen vollständig
    regele, und die Zukunft ließ ihn in der Ferne Schwierigkeiten und Zweifel sehen, für die er in seinem Kodex keine
    Richtschnur des Handelns fand.
    Sein jetziges Verhältnis zu Anna und zu ihrem Manne erschien ihm einfach und klar. Dieses Verhältnis war
    deutlich und genau in dem Kodex von Grundsätzen geregelt, von dem er sich leiten ließ.
    Sie war eine anständige Frau, die ihm ihre Liebe geschenkt hatte, und er liebte sie, und daher war sie für ihn
    ein Weib, das gleicher oder sogar noch höherer Achtung würdig war als eine rechtmäßige Ehefrau. Er hätte sich eher
    die Hand abhauen lassen, als daß er sich erlaubt hätte, sie durch ein Wort, durch eine Anspielung zu verletzen oder
    ihr auch nur das geringste von der Achtung vorzuenthalten, die eine Frau überhaupt nur beanspruchen kann.
    Seine Beziehungen zur Gesellschaft waren gleichfalls klar. Alle mochten sein Verhältnis zu Anna kennen oder
    vermuten, aber niemand durfte wagen, davon zu sprechen. Andernfalls war er bereit, den Betreffenden zum Schweigen
    zu bringen und die nicht bestehende Ehre der Frau, die er liebte, zu verteidigen.
    Am allerklarsten war sein Verhältnis zu dem Gatten. Von dem Augenblick an, da Anna Wronski lieb gewonnen hatte,
    war er der Überzeugung gewesen, daß er, und nur er, ein unantastbares Recht auf sie besitze. Der Gatte war nur eine
    überflüssige und störende Persönlichkeit. Zweifellos befand sich dieser in einer kläglichen Lage; aber da war
    weiter nichts zu machen. Das einzige, wozu dieser Gatte ein Recht hatte, war, mit der Waffe in der Hand Genugtuung
    zu fordern, und diese zu geben, dazu war Wronski vom ersten Augenblicke an bereit gewesen.
    Aber in der letzten Zeit waren neue, innerliche Beziehungen zwischen ihm und ihr zutage getreten, die ihn durch
    ihre Unklarheit erschreckten. Gestern erst hatte sie ihm mitgeteilt, daß sie schwanger sei. Und er hatte gefühlt,
    daß diese Nachricht und das, was Anna von ihm erwartete, eine Handlungsweise verlangten, die nicht vollständig in
    jenem Kodex von Grundsätzen vorgeschrieben war, von dem er sich im Leben leiten ließ. In der Tat, er war ganz
    fassungslos gewesen, und im ersten Augenblicke, nachdem sie ihm von ihrem Zustand Mitteilung gemacht, hatte ihm
    sein Herz eingegeben, von ihr zu verlangen, daß sie ihren Mann verlassen solle. Das hatte er denn auch zu ihr
    gesagt; aber jetzt, da er darüber nachdachte, erkannte er klar, daß es zweckmäßiger sei, eine solche Trennung von
    dem Gatten zu vermeiden; aber während er sich dies sagte, fürchtete er zugleich, daß das eine unmoralische Handlung
    sei.
    ›Wenn ich gesagt habe, sie solle ihren Mann verlassen, so bedeutet das, daß

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