Anna Karenina
Befriedigung der sinnlichen Leidenschaft ...«
»Alexei Alexandrowitsch! Einen am Boden Liegenden zu schlagen, zeugt nicht nur von Mangel an Großmut, sondern
auch von Mangel an Anstandsgefühl.«
»Ja, Sie denken nur an sich selbst! Aber die Leiden des Mannes, der Ihr Gatte war, die sind Ihnen gleichgültig.
Das kümmert Sie nicht, daß sein ganzes Leben zerstört ist und daß er so viel Leid dulch ... dulch ... dulchgemacht
hat.«
Alexei Alexandrowitsch sprach so schnell, daß er ins Stottern geriet und dieses Wort gar nicht aussprechen
konnte. Endlich kam »dulchgemacht« heraus. Das erschien ihr lächerlich; aber sofort schämte sie sich darüber, daß
ihr in einem solchen Augenblicke etwas hatte lächerlich erscheinen können. Und zum ersten Male wurde in ihrem
Herzen einen Augenblick lang ein milderes Gefühl für ihn rege, sie versetzte sich in seine Lage und bemitleidete
ihn. Aber was hätte sie sagen oder tun können? Sie ließ den Kopf sinken und schwieg. Auch er schwieg einige Zeit
und hob dann mit minder kreischender Stimme und in nicht ganz so kaltem Tone von neuem an, wobei er willkürlich
herausgegriffene Worte betonte, die gar keine besondere Wichtigkeit hatten.
»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen ...«, fing er an.
Sie blickte ihn an.
›Nein, das ist mir doch nur so vorgekommen‹, dachte sie mit Bezug auf den Ausdruck, den sie auf seinem Gesichte
wahrzunehmen geglaubt hatte, als er bei dem Worte »dulchgemacht« ins Stottern geriet. ›Nein, kann denn ein Mensch
mit diesen trüben Augen und mit dieser selbstzufriedenen Ruhe überhaupt irgend etwas empfinden?‹
»Ich kann nichts daran ändern«, flüsterte sie.
»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich morgen nach Moskau reise und nicht wieder in dieses Haus
zurückkehren werde und daß Sie von meinem Entschlusse durch den Rechtsanwalt Nachricht erhalten werden, den ich mit
der Einreichung der Klage auf Scheidung beauftragen werde. Mein Sohn aber wird zu meiner Schwester übersiedeln«,
erklärte Alexei Alexandrowitsch; er erinnerte sich nur mit Anstrengung an das, was er über seinen Sohn hatte sagen
wollen.
»Sie wollen Sergei nur haben, um mir wehe zu tun«, antwortete sie und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Sie
lieben ihn nicht ... Lassen Sie mir Sergei!«
»Ja, sogar die Liebe zu meinem Sohne ist mir abhanden gekommen, weil sein Anblick mich immer an meinen Abscheu
gegen Sie erinnert. Aber ich nehme ihn doch für mich. Leben Sie wohl!«
Er wollte hinausgehen; aber jetzt hielt sie ihn zurück.
»Alexei Alexandrowitsch, lassen Sie mir Sergei!« flüsterte sie noch einmal. »Weiter kann ich nichts sagen.
Lassen Sie mir Sergei bis zu meiner ... Ich werde bald einem Kinde das Leben geben. Lassen Sie ihn mir!«
Alexei Alexandrowitschs Gesicht bedeckte sich mit dunkler Glut; er entriß ihr seine Hand und verließ schweigend
das Zimmer.
Fußnoten
1 (frz.) die Feststellung einer
Tatsache.
5
Das Wartezimmer des berühmten Petersburger Rechtsanwaltes war gefüllt, als Alexei Alexandrowitsch es betrat.
Drei Klientinnen, eine alte Dame, eine junge Dame und eine Kaufmannsfrau mittleren Alters sowie drei Klienten, ein
deutscher Bankier mit einem Siegelring am Finger, ein bärtiger Kaufmann und ein Beamter mit grimmiger Miene, in
Uniform, mit einem Orden am Halse, warteten offenbar schon lange. Zwei Schreiber des Rechtsanwaltes saßen, mit
Schreiben beschäftigt, an Tischen; man hörte das Geräusch ihrer Federn auf dem Papier. Die Schreibgeräte waren
außerordentlich schön; Alexei Alexandrowitsch, dessen besondere Liebhaberei dies war, konnte nicht umhin, es zu
bemerken. Einer der Schreiber wandte sich, ohne aufzustehen, mit zusammengekniffenen Augen ärgerlich zu Alexei
Alexandrowitsch.
»Was ist Ihnen gefällig?«
»Ich habe geschäftlich mit dem Herrn Rechtsanwalt zu sprechen.«
»Der Herr Rechtsanwalt ist sehr in Anspruch genommen«, antwortete der Schreiber in strengem Tone, indem er mit
der Feder auf die Wartenden wies, und schrieb dann weiter.
»Hat er nicht vielleicht dazwischen einen Augen blick für mich Zeit?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
»Er hat keinen freien Augenblick; er ist immer beschäftigt. Bitte zu warten!«
»Möchten Sie dann nicht so freundlich sein, ihm meine Karte zu überreichen«, sagte Alexei Alexandrowitsch, da er
die Notwendigkeit einsah, sein Inkognito aufzugeben.
Der Schreiber nahm die Karte hin, machte ein Gesicht, als ob ihn deren Inhalt sehr wenig
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