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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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gereizter Stimmung befunden
    hatte.
    Er schlief die ganze Nacht nicht, und sein Zorn, der in gewaltiger Steigerung wuchs, hatte am Morgen die denkbar
    größte Höhe erreicht. Er kleidete sich eilig an und ging zu seiner Frau, sobald er erfahren hatte, daß sie
    aufgestanden sei. Er trug ihr gleichsam die volle Schale seines Zornes hin, besorgt, etwas davon zu verschütten und
    mit dem Zorne zugleich Einbuße an der Energie zu erleiden, deren er bei der Auseinandersetzung mit seiner Frau
    bedurfte.
    Obgleich Anna ihren Mann so genau zu kennen glaubte, war sie doch, als er in ihr Zimmer trat, von seinem
    Aussehen überrascht. Seine Stirn war gerunzelt; die Augen blickten finster vor sich hin und wichen ihrem Blicke
    aus; der Mund war fest und verächtlich zusammengepreßt. In seinem Gange, in sei nen Bewegungen und im Ton seiner
    Stimme lag eine Entschlossenheit und Festigkeit, wie Anna sie noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Er trat ins
    Zimmer, ging, ohne sie zu begrüßen, gerade auf ihren Schreibtisch zu, ergriff die Schlüssel und öffnete eine
    Schublade.
    »Was suchen Sie da?« rief sie.
    »Die Briefe Ihres Liebhabers«, antwortete er.
    »Die sind nicht hier«, sagte sie und schob die Schublade wieder zu; aber an dieser Bewegung bemerkte er, daß
    seine Vermutung richtig gewesen war. Heftig stieß er Ihre Hand zur Seite und ergriff schnell eine Mappe, in der
    sie, wie er wußte, ihre wichtigsten Papiere aufbewahrte. Sie wollte ihm die Mappe entreißen; aber er stieß sie
    zurück.
    »Setzen Sie sich! Ich habe mit Ihnen zu reden!« sagte er. Die Mappe hatte er unter den Arm genommen und preßte
    sie mit dem Ellbogen so stark an sich, daß sich seine Schulter in die Höhe hob.
    Erstaunt und ängstlich blickte sie ihn an und schwieg.
    »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Ihnen nicht gestatte, Ihren Liebhaber in diesem Hause zu empfangen.«
    »Ich muß ihn sehen, um ...«
    Sie hielt inne, da sie keine Ausrede fand.
    »Es liegt mir nicht daran, die näheren Gründe zu hören, weswegen eine Frau ihren Liebhaber sehen muß.«
    »Ich wollte ... ich wollte nur ...«, begann sie; sie war dunkelrot geworden. Sein grobes Benehmen empörte sie
    und machte sie mutig. »Haben Sie denn gar kein Gefühl dafür, eine wie leichte Sache es für Sie ist, mich zu
    beleidigen?« fragte sie.
    »Beleidigen kann man einen ehrlichen Mann und eine ehrliche Frau; aber wenn man zu einem Diebe sagt, daß er ein
    Dieb ist, so ist das lediglich la constatation d'un fait 1 .«
    »Diesen neuen Zug von Grausamkeit habe ich an Ihnen noch nicht gekannt.«
    »Das nennen Sie Grausamkeit, wenn ein Mann seiner Frau alle Freiheit läßt, sie mit dem Ehrenschilde seines
    Namens deckt und nur die einzige Bedingung stellt, daß der Anstand gewahrt werde. Ist das Grausamkeit?«
    »Das ist schlimmer als Grausamkeit; es ist Gemeinheit, wenn Sie es denn wissen wollen!« rief Anna in einem
    heftigen Wutausbruche. Sie stand auf und wollte hinausgehen.
    »Nein!« schrie er mit seiner kreischenden Stimme, die sich jetzt noch um einen Ton höher gehoben hatte als
    gewöhnlich. Mit seinen großen Fingern packte er sie so heftig am Handgelenk, daß an diesem rote Spuren von dem
    Armband, das er dagegengepreßt hatte, zurückblieben; so zwang er sie gewaltsam, sich wie der auf ihren Platz zu
    setzen. »Gemeinheit? Wenn Sie sich dieses Wortes bedienen wollen, so ist das eine Gemeinheit: den Gatten und den
    Sohn um des Liebhabers willen aufzugeben und doch das Brot des Gatten weiter zu essen!«
    Sie ließ den Kopf sinken. Was sie gestern zu ihrem Geliebten gesagt hatte, daß er ihr wahrer Gatte sei
    und ihr bisheriger Gatte eine überflüssige Person, das sprach sie heute nicht aus, ja, sie dachte es nicht einmal.
    Sie fühlte die ganze Berechtigung dessen, was Alexei Alexandrowitsch gesagt hatte, und erwiderte nur leise:
    »Sie können meine Lage nicht schlimmer darstellen, als ich sie selbst auffasse; aber warum sagen Sie das
    alles?«
    »Warum ich das sage? Warum?« fuhr er ebenso zornig fort. »Damit Sie wissen, daß ich, da Sie meinen Willen wegen
    der Wahrung des Anstandes nicht erfüllt haben, nunmehr Maßregeln ergreifen werde, um dieser Lage ein Ende zu
    machen.«
    »Sie wird schon sowieso bald ein Ende nehmen, sehr bald«, versetzte sie, und wieder traten ihr bei dem Gedanken
    an den nahen, jetzt ersehnten Tod die Tränen in die Augen.
    »Sie wird schneller ein Ende nehmen, als Sie sich das mit Ihrem Liebhaber zurechtgelegt haben! Was Sie wünschen,
    ist

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