Anna Karenina
gereizter Stimmung befunden
hatte.
Er schlief die ganze Nacht nicht, und sein Zorn, der in gewaltiger Steigerung wuchs, hatte am Morgen die denkbar
größte Höhe erreicht. Er kleidete sich eilig an und ging zu seiner Frau, sobald er erfahren hatte, daß sie
aufgestanden sei. Er trug ihr gleichsam die volle Schale seines Zornes hin, besorgt, etwas davon zu verschütten und
mit dem Zorne zugleich Einbuße an der Energie zu erleiden, deren er bei der Auseinandersetzung mit seiner Frau
bedurfte.
Obgleich Anna ihren Mann so genau zu kennen glaubte, war sie doch, als er in ihr Zimmer trat, von seinem
Aussehen überrascht. Seine Stirn war gerunzelt; die Augen blickten finster vor sich hin und wichen ihrem Blicke
aus; der Mund war fest und verächtlich zusammengepreßt. In seinem Gange, in sei nen Bewegungen und im Ton seiner
Stimme lag eine Entschlossenheit und Festigkeit, wie Anna sie noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Er trat ins
Zimmer, ging, ohne sie zu begrüßen, gerade auf ihren Schreibtisch zu, ergriff die Schlüssel und öffnete eine
Schublade.
»Was suchen Sie da?« rief sie.
»Die Briefe Ihres Liebhabers«, antwortete er.
»Die sind nicht hier«, sagte sie und schob die Schublade wieder zu; aber an dieser Bewegung bemerkte er, daß
seine Vermutung richtig gewesen war. Heftig stieß er Ihre Hand zur Seite und ergriff schnell eine Mappe, in der
sie, wie er wußte, ihre wichtigsten Papiere aufbewahrte. Sie wollte ihm die Mappe entreißen; aber er stieß sie
zurück.
»Setzen Sie sich! Ich habe mit Ihnen zu reden!« sagte er. Die Mappe hatte er unter den Arm genommen und preßte
sie mit dem Ellbogen so stark an sich, daß sich seine Schulter in die Höhe hob.
Erstaunt und ängstlich blickte sie ihn an und schwieg.
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Ihnen nicht gestatte, Ihren Liebhaber in diesem Hause zu empfangen.«
»Ich muß ihn sehen, um ...«
Sie hielt inne, da sie keine Ausrede fand.
»Es liegt mir nicht daran, die näheren Gründe zu hören, weswegen eine Frau ihren Liebhaber sehen muß.«
»Ich wollte ... ich wollte nur ...«, begann sie; sie war dunkelrot geworden. Sein grobes Benehmen empörte sie
und machte sie mutig. »Haben Sie denn gar kein Gefühl dafür, eine wie leichte Sache es für Sie ist, mich zu
beleidigen?« fragte sie.
»Beleidigen kann man einen ehrlichen Mann und eine ehrliche Frau; aber wenn man zu einem Diebe sagt, daß er ein
Dieb ist, so ist das lediglich la constatation d'un fait 1 .«
»Diesen neuen Zug von Grausamkeit habe ich an Ihnen noch nicht gekannt.«
»Das nennen Sie Grausamkeit, wenn ein Mann seiner Frau alle Freiheit läßt, sie mit dem Ehrenschilde seines
Namens deckt und nur die einzige Bedingung stellt, daß der Anstand gewahrt werde. Ist das Grausamkeit?«
»Das ist schlimmer als Grausamkeit; es ist Gemeinheit, wenn Sie es denn wissen wollen!« rief Anna in einem
heftigen Wutausbruche. Sie stand auf und wollte hinausgehen.
»Nein!« schrie er mit seiner kreischenden Stimme, die sich jetzt noch um einen Ton höher gehoben hatte als
gewöhnlich. Mit seinen großen Fingern packte er sie so heftig am Handgelenk, daß an diesem rote Spuren von dem
Armband, das er dagegengepreßt hatte, zurückblieben; so zwang er sie gewaltsam, sich wie der auf ihren Platz zu
setzen. »Gemeinheit? Wenn Sie sich dieses Wortes bedienen wollen, so ist das eine Gemeinheit: den Gatten und den
Sohn um des Liebhabers willen aufzugeben und doch das Brot des Gatten weiter zu essen!«
Sie ließ den Kopf sinken. Was sie gestern zu ihrem Geliebten gesagt hatte, daß er ihr wahrer Gatte sei
und ihr bisheriger Gatte eine überflüssige Person, das sprach sie heute nicht aus, ja, sie dachte es nicht einmal.
Sie fühlte die ganze Berechtigung dessen, was Alexei Alexandrowitsch gesagt hatte, und erwiderte nur leise:
»Sie können meine Lage nicht schlimmer darstellen, als ich sie selbst auffasse; aber warum sagen Sie das
alles?«
»Warum ich das sage? Warum?« fuhr er ebenso zornig fort. »Damit Sie wissen, daß ich, da Sie meinen Willen wegen
der Wahrung des Anstandes nicht erfüllt haben, nunmehr Maßregeln ergreifen werde, um dieser Lage ein Ende zu
machen.«
»Sie wird schon sowieso bald ein Ende nehmen, sehr bald«, versetzte sie, und wieder traten ihr bei dem Gedanken
an den nahen, jetzt ersehnten Tod die Tränen in die Augen.
»Sie wird schneller ein Ende nehmen, als Sie sich das mit Ihrem Liebhaber zurechtgelegt haben! Was Sie wünschen,
ist
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