Anna Karenina
einzige, das
einzige, was uns noch übriggeblieben ist.«
Er hatte sich wieder gefaßt und hob den Kopf in die Höhe.
»Was ist das für Torheit! Was für sinnlose Torheit redest du da!«
»Nein, das ist die Wahrheit.«
»Was soll die Wahrheit sein, was denn?«
»Daß ich sterben werde. Ich habe es geträumt.«
»Geträumt?« wiederholte Wronski und mußte im gleichen Augenblick an den Bauer denken, von dem er selbst geträumt
hatte.
»Ja, geträumt«, sagte sie. »Diesen Traum habe ich schon vor längerer Zeit gehabt. Mir träumte, ich lief in mein
Schlafzimmer; ich mußte da etwas holen oder nachsehen: du weißt, das kommt im Traum so oft vor«, bemerkte sie und
öffnete vor Grausen weit die Augen, »und da stand im Schlafzimmer etwas in der Ecke ...«
»Ach, was für Unsinn! Wie kann man nur an so etwas glauben ...«
Aber sie ließ sich nicht unterbrechen. Das, was sie da erzählte, war ihr zu wichtig.
»Und dieses Ding drehte sich um, und ich sah, daß es ein kleiner, furchtbar aussehender Bauer mit zerzaustem
Barte war. Ich wollte weglaufen; aber er bückte sich über einen Sack und wühlte mit den Händen darin herum ...«
Sie machte nach, wie er mit den Händen darin herumgewühlt hatte. Entsetzen malte sich auf ihrem Gesichte, und
Wronski, der sich seines eigenen Traumes erinnerte, fühlte, wie das gleiche Entsetzen seine Seele erfüllte.
»Er wühlte darin herum und sagte dabei etwas auf französisch, ganz schnell, ganz schnell, und, weißt du, er
schnarrte dabei das R: ›Il faut le battre le fer, le broyer, le pétrir ...‹ 1 Vor Angst wünschte ich aufzuwachen, und ich wachte auch auf ... aber es träumte mir
nur, daß ich aufwachte. Und nun fragte ich mich, immer noch im Traume, was das zu bedeuten habe. Und der
Kammerdiener Kornei sagte mir: ›Im Wochenbette werden Sie sterben, Mütterchen, im Wochenbette, jawohl, im
Wochenbette werden Sie sterben.‹ ... Und da erwachte ich.«
»Was für Unsinn! Was für Unsinn!« rief Wronski; aber er fühlte selbst, daß seiner Stimme der Ton eigener
Überzeugung mangelte.
»Aber wir wollen nicht mehr davon reden. Klingle; ich möchte Tee bringen lassen. Ja, warte nur, jetzt dauert es
nicht mehr lange; ich ...«
Aber plötzlich hielt sie inne. Der Ausdruck ihres Gesichtes änderte sich in einem Augenblicke. An die Stelle der
Aufregung und des Entsetzens trat auf einmal der Ausdruck eines stillen, ernsten, beglückten Aufmerkens. Wronski
konnte die Bedeutung dieser Verwandlung nicht verstehen. Anna hatte in sich die Regung eines neuen Lebens
gespürt.
Fußnoten
1 (frz.) Man muß das Eisen schmieden, muß
es schlagen, muß es formen.
4
Nachdem Alexei Alexandrowitsch in seiner Haustür mit Wronski zusammengetroffen war, fuhr er, wie es auch seine
Absicht gewesen war, in die Italienische Oper. Er saß dort zwei Akte ab und begrüßte alle die, die zu begrüßen ihm
wichtig war. Nach Hause zurückgekehrt, musterte er aufmerksam den Kleiderständer, und als er festgestellt hatte,
daß sich daran kein Militärmantel befand, begab er sich wie gewöhnlich in sein Zimmer. Aber gegen seine Gewohnheit
legte er sich nicht schlafen, sondern wanderte bis drei Uhr morgens in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Der Zorn
ließ ihm keine Ruhe, der Zorn gegen seine Frau, die die Gebote des Anstandes nicht beobachten und die einzige von
ihm gestellte Bedingung, ihren Liebhaber nicht in diesem Hause zu empfangen, nicht erfüllen wollte. Sie hatte seine
Forderung nicht erfüllt, und er mußte sie daher jetzt bestrafen und seine Drohung zur Ausführung bringen, das
heißt, er mußte die Scheidung verlangen und ihr den Sohn wegnehmen. Er kannte alle Schwierigkeiten, mit denen
dieses Verfahren verknüpft war; aber er hatte gesagt, daß er es tun werde, und mußte jetzt seine Drohung ausführen.
Die Gräfin Lydia Iwanowna hatte ihm eine leise Andeutung gemacht, daß dies der beste Ausweg aus seiner Lage sein
werde, und in letzter Zeit hatten die Rechtsanwälte ihre Methode in Ehescheidungsprozessen derart vervollkommnet,
daß Alexei Alexandrowitsch es für möglich erachtete, die förmlichen Schwierigkeiten zu überwinden. Außerdem hatte
er, wie denn ein Unglück selten allein kommt, von der Angelegenheit der Verwaltungseinrichtungen der Fremdvölker
und von der Angelegenheit der Berieselung der Felder im Gouvernement Saraisk solche Unannehmlichkeiten in
dienstlicher Hinsicht gehabt, daß er sich während der ganzen letzten Zeit in äußerst
Weitere Kostenlose Bücher