Anna Karenina
Atem benahm.
»Nein, wir sind nach dem Gouvernement Twer auf die Jagd gefahren. Auf der Rückkehr von dort traf ich im
Eisenbahnwagen mit Ihrem Schwager zusammen oder vielmehr mit dem Schwager Ihres Schwagers«, antwortete er lächelnd.
»Es war eine komische Begegnung.«
Und er erzählte lustig und humoristisch, wie er, nachdem er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, in seinem
kurzen Schafpelz in Alexei Alexandrowitschs Abteil eingedrungen war.
»Der Schaffner wollte mich wegen meiner Kleidung hinausweisen; aber da fing ich an, mich in gebildeter Sprache
auszudrücken und ... Auch Sie«, wandte er sich an Karenin, dessen vollständigen Namen er vergessen hatte, »auch Sie
wollten mich zuerst wegen meines Schafpelzes hinausjagen; aber dann traten Sie für mich ein, wofür ich Ihnen sehr
dankbar war.«
»Die Rechte der Reisenden auf die Wahl ihrer Plätze sind überhaupt nur sehr mangelhaft festgelegt«, versetzte
Alexei Alexandrowitsch und wischte sich mit dem Taschentuche die Fingerspitzen ab.
»Ich sah, daß Sie über mich im unklaren waren«, sagte Ljewin mit gutmütigem Lächeln, »und darum beeilte ich
mich, ein gebildetes Gespräch anzufangen, um meinen Schafpelz wieder wettzumachen.«
Sergei Iwanowitsch, der ein Gespräch mit der Hausfrau führte und mit einem Ohre nach seinem Bruder
hinüberhorchte, schielte jetzt nach ihm hin. ›Was mit ihm heute nur ist? Ganz wie ein siegreicher Feldherr!‹ dachte
er. Er wußte nicht, daß jenem zumute war, als seien ihm Flügel gewachsen. Ljewin wußte, daß sie seine Worte anhörte
und gern anhörte. Nichts weiter als dieses eine interessierte und beschäftigte ihn. In diesem Zimmer, ja in der
ganzen Welt lebten jetzt für ihn nur zwei Personen: er, der in seinen eigenen Augen eine gewaltige Bedeutung und
Wichtigkeit erlangt hatte, und sie. Er fühlte sich auf einer Höhe, von der ihm schwindlig wurde, und irgendwo da
unten, in weiter Ferne waren all diese guten, prächtigen Menschen, Karenin und Oblonski und die ganze übrige
Welt.
Ganz unauffällig, ohne sie anzusehen, als ob er keinen andern Platz mehr wüßte, setzte Stepan Arkadjewitsch
Ljewin und Kitty nebeneinander.
»Na, und du könntest dich ja etwa dorthin setzen«, sagte er zu Ljewin.
Das Essen war ebenso vorzüglich wie das Tafelgerät, wie denn für feines Tafelgerät Stepan Arkadjewitsch eine
besondere Liebhaberei hatte. Die Suppe Marie Louise war ausgezeichnet gut geraten; die kleinen Pastetchen, die
einem im Munde zergingen, waren tadellos. Zwei Lohndiener und Matwei, mit weißen Binden, walteten ihres Amtes beim
Auftragen der Speisen und Einschenken der Weine unauffällig, leise und eifrig. In materieller Hinsicht war das Mahl
entschieden wohlgelungen und nicht minder, was geistige Genüsse anlangte. Das Gespräch, das bald gemeinsam war,
bald sich in Einzelunterhaltungen auflöste, verstummte keinen Augenblick und wurde gegen Ende der Mahlzeit so
lebhaft, daß die Herren nicht einmal durch die Aufhebung der Tafel sich in ihrem Meinungsaustausch unterbrechen
ließen und sogar Alexei Alexandrowitsch auftaute.
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Peszow liebte es, eine Erörterung bis zur Erschöpfung des Gegenstandes fortzusetzen, und fühlte sich von dem,
was Sergei Iwanowitsch vor Tisch gesagt hatte, nicht befriedigt, um so weniger, da er die Unrichtigkeit seiner
eigenen Ansicht fühlte.
»Ich hatte«, sagte er während der Suppe, zu Alexei Alexandrowitsch gewendet, »nicht ausschließlich die
Dichtigkeit der Bevölkerung gemeint, sondern diese in Verbindung mit der geistigen Grundrichtung des Volkes; von
den Verwaltungsgrundsätzen würde ich mir allerdings keine besondere Wirkung versprechen.«
»Mir scheint«, antwortete Alexei Alexandrowitsch langsam und in mattem Tone, »daß das ein und dasselbe ist.
Meiner Ansicht nach kann auf ein anderes Volk nur ein solches einwirken, das auf einer höheren Stufe der
Entwicklung steht und das ...«
»Aber das ist gerade die Frage«, unterbrach ihn mit seiner tiefen Stimme Peszow, der es immer sehr eilig hatte
zu Worte zu kommen und anscheinend immer mit ganzer Seele bei dem Gegenstande eines Gespräches war, »worin haben
wir die höhere Entwicklung zu finden? Die Engländer, die Franzosen, die Deutschen, welches von diesen Völkern steht
auf der höchsten Stufe der Entwicklung? Welches von ihnen wird eins der anderen zu seiner eigenen Nationalität
hinüberführen können? Wir sehen, daß die Rheingegend gallisiert worden ist, und doch stehen
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