Anna Karenina
sechs Uhr, und einige Gäste waren schon anwesend, als auch der Hausherr selbst
erschien. Er trat zugleich mit Sergei Iwanowitsch Kosnüschew und Peszow ein, die sich an der Haustür getroffen
hatten. Dies waren die beiden Hauptvertreter der Moskauer Intelligenz, wie Oblonski sie zu nennen pflegte. Beide
erfreuten sich sowohl wegen ihres Charakters wie auch wegen ihres Verstandes allgemeiner Achtung. Auch achteten sie
sich gegenseitig; aber es bestanden in fast allen Dingen zwischen ihnen die stärksten Meinungsverschiedenheiten,
deren Überbrückung ganz aussichtslos erschien, nicht etwa weil sie beide entgegengesetzten Richtungen angehört
hätten, sondern gerade weil sie sich zwar zu einer und derselben Partei hielten (von ihren Feinden wurden sie beide
in denselben Topf geworfen), innerhalb dieser Partei jedoch ein jeder von ihnen seine besondere Schattierung hatte.
Und da nichts einer Einigung hinderlicher ist als eine Meinungsverschiedenheit in halb abstrakten Dingen, so fanden
sie sich nicht nur niemals mit ihren Meinungen zusammen, sondern sie hatten sich auch schon längst gewöhnt, einer
über des andern unverbesserliche Verirrungen einfach zu lachen, ohne sich weiter zu ärgern.
Sie traten gerade, in einem Gespräche über das Wetter begriffen, in den Salon, als Stepan Arkadjewitsch sie
einholte. Im Salon saßen schon Fürst Alexander Dmitrijewitsch Schtscherbazki, der junge Schtscherbazki, Turowzün,
Kitty und Karenin.
Stepan Arkadjewitsch sah auf den ersten Blick, daß die Sache hier im Salon, solange er noch nicht anwesend war,
einen schlechten Lauf nahm. Darja Alexandrowna, in ihrem grauseidenen Staatskleide, war offenbar in großer Unruhe
sowohl wegen der Kinder, die allein in der Kinderstube essen mußten, wie auch wegen des Ausbleibens ihres Mannes
und hatte es nicht verstanden, ohne ihn diese Gesellschaft hübsch durcheinanderzurühren. Alle saßen sie da wie
Popentöchter auf Besuch (wie sich der alte Fürst ausdrückte), augenscheinlich in verständnislosem Staunen darüber,
weshalb man sie eigentlich hierher geladen habe, und drückten ein paar Worte heraus, um nicht ganz stumm zu sein.
Der gutmütige Turowzün hatte offenbar das Gefühl, daß er sich hier in einem Kreise befinde, in den er nicht
hineinpasse, und das Lächeln seiner dicken Lippen, mit dem er Stepan Arkadjewitsch begrüßte, besagte so deutlich,
wie es Worte nur gekonnt hätten: ›Aber hör mal, Bruder, da hast du mich ja mit gelehrten Leuten zusammengebracht!
Mein Geschmack ist vielmehr: gehörig zu trinken und mich am Château des fleurs zu ergötzen!‹ Der alte Fürst saß
schweigend da und warf manchmal mit seinen blitzenden kleinen Augen einen Blick zur Seite nach Karenin hin, und
Stepan Arkadjewitsch merkte, daß er bereits irgendein Bonmot ersonnen hatte, um diesen hohen Staatsbeamten zu
charakterisieren, der den eigens dazu eingeladenen Gästen wie ein feiner Sterlet vorgesetzt wurde. Kitty blickte
nach der Tür und nahm alle ihre Kraft zusammen, um bei Konstantin Ljewins Eintritt nicht zu erröten. Der junge
Schtscherbazki, der versehentlich Karenin nicht vorgestellt worden war, bemühte sich zu zeigen, daß ihn das in
keiner Weise störe. Karenin selbst war, wie es in Petersburg bei einem Essen mit Damen Sitte ist, in Frack und
weißer Binde, und Stepan Arkadjewitsch ersah an seinem Gesichte, daß er nur, um sein gegebenes Wort zu halten,
gekommen sei und durch seine Anwesenheit in dieser Gesellschaft eine lästige Pflicht erfülle. Er war auch in erster
Linie schuld an der eisigen Temperatur, die alle Gäste vor Stepan Arkadjewitschs Eintreffen in Erstarrung versetzt
hatte.
Bei seinem Eintritt in den Salon bat Stepan Arkadjewitsch um Entschuldigung, erklärte, er sei von dem Fürsten
N.N. (ein solcher Fürst diente ihm immer als Sündenbock, sooft er sich verspätete oder ganz ausblieb) aufgehalten
worden, und brachte dann in einem Augenblick seine Gäste miteinander in Berührung. Er führte Alexei Alexandrowitsch
und Sergei Kosnüschew zusammen und warf ihnen als Gesprächsthema die Russifizierung Polens hin, in die sie sich
denn auch sogleich, ebenso wie Peszow, verbissen. Er klopfte Turowzün auf die Schulter, flüsterte ihm etwas
Lächerliches zu und setzte ihn zu seiner Frau und dem Fürsten. Dann sprach er ein paar Worte mit Kitty darüber, daß
sie heute besonders hübsch aussähe, und stellte den jungen Schtscherbazki Herrn Karenin vor. In einem Augenblick
hatte er
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