Anna Karenina
die Deutschen nicht auf
einer niedrigeren Stufe!« rief er. »Da liegt noch ein anderes Gesetz vor!«
»Mir scheint, daß das Übergewicht immer auf seiten der wahren Bildung ist«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch,
indem er die Brauen ein wenig in die Höhe zog.
»Aber woran sollen wir denn die Merkmale der wahren Bildung erkennen?« fragte Peszow.
»Ich meine, diese Merkmale sind bekannt«, versetzte Alexei Alexandrowitsch.
»Sind sie wirklich so genau bekannt?« mischte sich Sergei Iwanowitsch mit einem feinen Lächeln ein. »Heutzutage
gilt den meisten die rein klassische Bildung als die einzig wahre; aber wir sehen, daß die beiden Parteien einen
erbitterten Kampf miteinander führen, und es ist nicht in Abrede zu stellen, daß auch die Gegner starke Beweise für
sich ins Treffen zu führen haben.«
»Nun, Sie sind ja ein echter Vertreter der klassischen Bildung, Sergei Iwanowitsch. Befehlen Sie Rotwein?« sagte
Stepan Arkadjewitsch.
»Ich spreche jetzt nicht mein Urteil über die eine und die andere Art der Bildung aus«, versetzte Sergei
Iwanowitsch mit einem herablassenden Lächeln, wie wenn er zu einem Kinde spräche, und hielt sein Glas hin. »Ich
sage nur, daß beide Parteien starke Gründe für sich haben«, fuhr er, sich wieder zu Alexei Alexandrowitsch wendend,
fort. »Ich persönlich habe eine klassische Bildung genossen; aber bei diesem Streite weiß ich nicht, auf welche
Seite ich mich stellen soll. Ich sehe keine klaren Gründe, weshalb man den klassischen Wissenschaften vor den
realen den Vorzug gegeben hat.«
»Die Naturwissenschaften haben den gleichen pädagogischen Wert für die geistige Entwicklung«, fiel Peszow ein.
»Nehmen Sie nur zum Beispiel die Astronomie, nehmen Sie die Botanik, die Zoologie mit ihrem strengen System
allgemeingültiger Gesetze!«
»Ich kann da nicht völlig zustimmen«, entgegnete Alexei Alexandrowitsch. »Mir scheint, es läßt sich nicht in
Abrede stellen, daß schon die eigenartige Verstandestätigkeit bei der Erlernung fremder Sprachen besonders günstig
auf die geistige Entwicklung einwirkt. Außerdem ist auch nicht zu leugnen, daß die klassischen Schriftsteller einen
im höchsten Grade moralischen Einfluß ausüben, während leider mit dem naturwissenschaftlichen Unterrichte jene
schädlichen Irrlehren eng verbunden sind, die eine Seuche unserer Zeit bilden.«
Sergei Iwanowitsch wollte etwas erwidern; aber Peszow mit seiner tiefen Baßstimme kam ihm zuvor. Er machte sich
hitzig daran, die Unrichtigkeit dieser Ansicht nachzuweisen. Sergei Iwanowitsch wartete ruhig, bis die Reihe zu
reden an ihn kommen werde; offenbar hatte er eine schlagende Erwiderung in Bereitschaft.
»Aber«, begann er endlich mit feinem Lächeln, indem er sich an Karenin wandte, »man wird zugeben müssen, daß es
eine schwere Aufgabe ist, alle Vorteile und Nachteile der einen und der anderen Gattung von Wissenschaften
vollständig gegeneinander abzuwägen, und daß man nicht so rasch zu einer endgültigen Entscheidung der Frage, welche
Gattung vorzuziehen sei, gelangt wäre, wenn nicht auf seiten der klassischen Bildung eben jener Vorzug vorhanden
wäre, den Sie soeben hervorhoben: die moralische – disons le mot 1 – die antinihilistische Wirkung.«
»Unzweifelhaft.«
»Wäre nicht auf seiten der klassischen Wissenschaften dieser Vorzug der antinihilistischen Wirkung vorhanden, so
würden wir die Sache doch länger in Erwägung ziehen, die Gründe beider Parteien sorgfältiger gegeneinander
abwägen«, sagte Sergei Iwanowitsch mit feinem Lächeln, »und der einen wie der anderen Richtung freie Bahn lassen.
So aber wissen wir, daß diesen Pillen der klassischen Bildung eine antinihilistische Heilkraft beiwohnt, und daher
verordnen wir sie unbedenklich unseren Patienten ... Aber wenn es nun mit dieser Heilkraft nichts ist?« schloß er
wieder damit, daß er eine Prise attischen Salzes in das Gespräch streute.
Bei dem Vergleiche mit den Pillen fingen alle an zu lachen, besonders laut und lustig Turowzün, der als Zuhörer
des Gespräches immer schon darauf gelauert hatte, daß einmal etwas Komisches vorkäme, und nun endlich auf seine
Rechnung gekommen war.
Stepan Arkadjewitsch hatte keinen Fehlgriff damit getan, daß er Peszow eingeladen hatte. Wo Peszow dabei war,
konnte ein ernstes, verständiges Gespräch auch nicht einen Augenblick lang abreißen. Kaum hatte Sergei Iwanowitsch
das bisherige Gespräch mit einer scherzhaften Wendung zum
Weitere Kostenlose Bücher