Anna Karenina
reinen, unschuldigen Wesen. Das ist ab
scheulich, und darum muß man sich mit Notwendigkeit unwürdig fühlen.«
»Na, du wirst ja nicht gar so viele Sünden begangen haben.«
»Ach, trotzdem«, sagte Ljewin, »trotzdem! ›Mit Ekel schaue ich auf mein Leben zurück, das ich mit Zittern und
Beben verwünsche und bitterlich beklage‹, heißt es in jenem Gebete. Ja.«
»Was ist da zu machen? Es ist in der Welt einmal nicht anders«, antwortete Stepan Arkadjewitsch.
»Es gibt nur einen Trost, wie es in dem Gebete steht, das ich immer so gern gemocht habe: ›Vergib mir nicht nach
meinem Verdienst, sondern nach deiner Barmherzigkeit.‹ Auch sie kann mir nur so vergeben.«
Fußnoten
1 (frz.) trockene weiße Schminke und
Toilettenwasser.
2 (frz.) Frühlingssuppe, Steinbutt mit
Soße Beaumarchais, Roastbeef auf englische Art, Hühnchen mit Beifuß, gemischte Früchte.
3 (frz.) Weißgesiegelter.
11
Ljewin trank sein Glas aus, und beide schwiegen eine Weile.
»Eines muß ich dir noch mitteilen. Kennst du Wronski?« fragte Stepan Arkadjewitsch darauf seinen Freund.
»Nein, ich kenne ihn nicht. Warum fragst du?«
»Bring noch eine Flasche!« wandte sich Stepan Arkadjewitsch an den Tataren, der die Gläser wieder gefüllt hatte
und sich um die beiden gerade dann zu schaffen machte, wenn seine Anwesenheit nicht erwünscht war.
»Du solltest Wronski deswegen kennen, weil er einer deiner Nebenbuhler ist.«
»Wer ist dieser Wronski?« rief Ljewin, und der kindlich-schwärmerische Ausdruck seines Gesichtes, über den sich
Oblonski soeben noch gefreut hatte, verwandelte sich plötzlich in einen grimmigen, feindseligen.
»Wronski ist einer der Söhne des Grafen Kirill Iwanowitsch Wronski und einer der hervorragendsten Vertreter der
Petersburger jeunesse dorée 1 . Ich habe ihn in Twer
kennengelernt, als ich dort angestellt war und er zur Rekrutenaushebung hinkam. Er ist furchtbar reich, ein schöner
Mann, hat viele gute Beziehungen, Flügeladjutant, und dabei zugleich ein sehr liebenswürdiger, guter Kerl. Aber er
ist mehr als nur so ein guter Kerl. Nach dem, wie ich ihn hier kennengelernt habe, ist er ein gebildeter, sehr
gescheiter Mensch; er wird es noch einmal weit bringen.«
Ljewin zog ein finsteres Gesicht und schwieg.
»Na also, der erschien hier bald nach deiner Abreise, und soviel ich weiß, ist er in Kitty bis über die Ohren
verliebt, und du begreifst wohl, daß die Mutter ...«
»Entschuldige, aber ich begreife gar nichts«, sagte Ljewin mit düsterer Stirn. Und zugleich fiel ihm sein Bruder
Nikolai ein und wie schlecht er selbst sei, daß er diesen hatte vergessen können.
»Halt, warte einmal!« sagte Stepan Arkadjewitsch lächelnd und berührte seine Hand. »Ich habe dir mitgeteilt, was
ich weiß, und ich wiederhole: in dieser heiklen, zarten Angelegenheit sind, soweit sich dergleichen vorher
beurteilen läßt, meines Erachtens die Aussichten auf deiner Seite.«
Ljewin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück; sein Gesicht war ganz blaß geworden.
»Ich würde dir aber raten, die Sache möglichst bald zur Entscheidung zu bringen«, fuhr Oblonski fort und füllte
ihm das Glas wieder.
»Nein, ich danke, ich kann nicht mehr trinken«, lehnte Ljewin ab und schob das Glas zurück. »Ich würde betrunken
werden. – Nun, und du, wie geht es dir denn?« fragte er, offenbar mit dem Wunsche, das Thema zu wechseln.
»Nur noch ein Wort: auf jeden Fall rate ich dir, die Frage mit möglichster Beschleunigung ins reine zu bringen;
aber heute schon davon zu reden, dazu würde ich nicht raten«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Mach morgen vormittag
dort in der nun einmal üblichen Form einen Besuch und halte um ihre Hand an. Und Gott möge dich segnen!«
»Du wolltest mich doch immer einmal zur Jagd auf dem Lande besuchen? Komm doch in diesem Frühjahr!« erwiderte
Ljewin.
Er bereute es jetzt in tiefster Seele, mit Stepan Arkadjewitsch dieses Gespräch begonnen zu haben. Sein Gefühl,
ein Gefühl, das nach seiner Meinung ganz eigenartig dastand, war entweiht durch das Gespräch über die gleichen
Bemühungen irgendeines Petersburger Offiziers und durch Stepan Arkadjewitschs Mutmaßungen und Ratschläge.
Stepan Arkadjewitsch lächelte. Er begriff völlig, was in Ljewins Seele vorging.
»Ich komme schon noch einmal«, antwortete er. »Ja, liebster Freund, die Weiber, das ist doch der Angelpunkt, um
den sich alles dreht. Auch mir geht es schlimm, recht schlimm. Und alles kommt von den Weibern
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