Anna Karenina
her. Sage mir doch
mal ganz aufrichtig deine Meinung«, fuhr er fort – in der einen Hand hielt er eine Zigarre, die er hervorgeholt
hatte, die andere Hand hatte er am Weinglase – »und gib mir einen Rat!«
»In welcher Angelegenheit denn?«
»Hör zu! Nehmen wir an, du wärest verheiratet und liebtest deine Frau, hättest aber eine Leidenschaft zu einem
anderen weiblichen Wesen gefaßt ...«
»Entschuldige, aber ich verstehe durchaus nicht, wie jemand ... ebenso wie ich nicht verstehe, was mich
veranlassen könnte, jetzt, da ich völlig gesättigt bin, aus einem Bäckerladen im Vorbeigehen einen Kringel zu
stehlen.«
Stepan Arkadjewitschs Augen glänzten noch heller als gewöhnlich.
»Warum nicht? Ein Kringel duftet manchmal so gut, daß man nicht widerstehen kann.
Himmlisch war's, wenn ich bezwang
Meine sündige Begier;
Aber wenn's mir nicht gelang,
Hatt ich doch ein groß Pläsier!«
Bei diesen Worten lächelte Stepan Arkadjewitsch fein und listig. Auch Ljewin vermochte ein Lächeln nicht zu
unterdrücken.
»Ja, aber nun ohne Scherz«, fuhr Oblonski fort. »Verstehst du: ein Mädchen, ein gutes, sanftes, liebendes Wesen,
hat einem Manne alles geopfert und steht nun arm und einsam da. Soll nun jetzt, nachdem die Tat bereits geschehen
ist, verstehst du wohl, soll der Mann sie nun im Stiche lassen? Allerdings, er wird sich von ihr trennen müssen, um
sein Familienleben nicht zu zerstören; aber soll er sie nicht bemitleiden, sie nicht wirtschaftlich sicherstellen,
ihren Kummer mildern?«
»Du mußt mich schon entschuldigen. Du weißt, für mich zerfallen alle Frauen in zwei Klassen – das heißt, nein –
richtiger so: es gibt Frauen, und es gibt ... Ich habe unter den gefallenen Weibern noch keine reizenden Geschöpfe
gesehen und werde solche wohl auch nie unter ihnen sehen; dergleichen Weiber, wie die geschminkte Französin da an
der Kasse, mit den Papilloten, das ist in meinen Augen widerwärtiges Geschmeiß, und alle Gefallenen sind von dieser
selben Sorte.«
»Und die Sünderin im Evangelium?«
»Ach, fang nicht damit an! Christus hätte jene Worte nie gesprochen, wenn er gewußt hätte, wie sie mißbraucht
werden würden. Aus dieser ganzen Geschichte werden immer nur diese Worte angeführt. Übrigens ist das bei mir nicht
sowohl Sache des Verstandes wie Sache des Gefühls. Ich habe einen Widerwillen gegen gefallene Weiber. Du ekelst
dich vor Spinnen und ich mich vor diesem Geschmeiß. Und dabei hast du die Spinnen gewiß nicht studiert und bist mit
ihrem Charakter nicht bekannt; mit mir steht es ebenso.«
»So zu reden wie du, ist kein Kunststück; du verfährst gerade wie jener Herr bei Dickens, der alle schwierigen
Fragen mit der linken Hand über die rechte Schulter wirft. Aber die Daseinsberechtigung einer Tatsache ableugnen,
das ist noch keine Antwort. Was ist in solcher Lage zu tun? Das sage mir: Was ist zu tun? Deine Frau altert, und du
selbst bist noch voll Lebenslust. Ehe du dich dessen versiehst, fühlst du auch schon, daß du deine Frau nicht mehr
lieben kannst, wenn du sie auch noch so sehr achtest und verehrst. Und auf einmal steht wie aus dem Boden gewachsen
eine wirkliche Liebe da, und du bist verloren, verloren!« stöhnte Stepan Arkadjewitsch niedergeschlagen und
verzweifelt.
Ljewin verzog das Gesicht zu einem Lächeln.
»Jawohl, verloren!« fuhr Oblonski fort. »Aber was ist da zu tun?«
»Man darf keine Kringel stehlen.«
Stepan Arkadjewitsch lachte auf.
»O du Moralprediger! Aber mach dir das doch nur klar: Da sind zwei Frauen: die eine kann sich nur auf ihr Recht
berufen, und nach diesem Rechte steht ihr deine Liebe zu, die du ihr doch nicht zu geben vermagst; die andere
bringt dir alles zum Opfer, ohne irgend etwas zu fordern. Was mußt du da tun? Wie mußt du dich verhalten? Das ist
die furchtbare Tragik dieser Lage.«
»Wenn du meine aufrichtige Meinung darüber wissen willst, muß ich dir sagen: ich glaube gar nicht, daß dabei
irgendwelche Tragik vorkommen kann. Der Grund ist der: Nach meiner Ansicht dient die Liebe – oder genauer: die
beiden Arten der Liebe, die, wie du dich wohl erinnerst, Plato in seinem ›Gastmahl‹ unterscheidet –, also die
beiden Arten der Liebe dienen als Prüfstein für die Menschen. Manche Menschen besitzen nur für die eine, manche nur
für die andere Art Verständnis. Diejenigen, die nur für die nichtplatonische Art der Liebe Verständnis besitzen,
haben kein Recht, von Tragik zu reden. Bei
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