Anna Karenina
dieser Art der Liebe kann überhaupt keine Tragik vorkommen. Da heißt es:
›Ich danke ergebenst für das genossene Vergnügen und empfehle mich‹, und damit ist die Sache erledigt. Bei der
platonischen Liebe aber ist Tragik deswegen unmöglich, weil bei einer solchen Liebe alles klar und rein ist und
weil ...«
In diesem Augenblicke fielen ihm aber seine eigenen Sünden und der Seelenkampf ein, den er durchgemacht hatte.
Und er fügte ohne Zusammenhang mit dem, was er vorher gesagt hatte, hinzu:
»Es mag übrigens auch sein, daß du recht hast. Sehr möglich ... Aber ich weiß es nicht, ich weiß es
schlechterdings nicht.«
»Ja, siehst du wohl«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch, »du bist ein durchaus einheitlicher Mensch. Das ist an dir
ein Vorzug und zugleich ein Mangel. Du selbst bist ein einheitlicher Charakter und möchtest nun, daß sich auch das
ganze Leben aus einheitlichen Erscheinungen zusammensetze, – aber das geht eben nicht an. Da verachtest du zum
Beispiel unsere Tätigkeit im Staatsdienste, weil du möchtest, daß diese Tätigkeit sich stets mit ihrem Ziele im
Einklang befinde; aber das ist nicht möglich. Du möchtest auch, daß die Tätigkeit eines jeden einzelnen Menschen
immer ein bestimmtes Ziel habe und daß Liebe und Eheleben immer zusammenfielen; aber das ist unmöglich. Die ganze
bunte Mannigfaltigkeit, der ganze Reiz, die ganze Schönheit des Lebens setzt sich aus Licht und Schatten
zusammen.«
Ljewin seufzte und erwiderte nichts darauf. Er hatte seine eigenen Gedanken und hörte nicht auf das, was
Oblonski sagte.
Und auf einmal fühlten sie beide, daß, obgleich sie Freunde waren und obgleich sie zusammen gespeist und Wein
getrunken hatten, was sie eigentlich einander hätte noch näherbringen müssen, daß dennoch ein jeder von ihnen nur
an sich selbst dachte und sich um den anderen herzlich wenig grämte. Oblonski hatte schon mehr als einmal diese
Erfahrung gemacht, daß nach einem gemeinsamen guten Mittagessen statt der zu erwartenden Annäherung vielmehr eine
Entfremdung eintritt, und wußte, was in solchen Fällen zu tun sei.
»Die Rechnung!« rief er und begab sich dann in den anstoßenden Saal, wo er auch sogleich einen ihm bekannten
Adjutanten traf und sich mit ihm in ein Gespräch über eine Schauspielerin und ihren Liebhaber einließ. Und bei
dieser Unterhaltung mit dem Adjutanten fühlte Oblonski sofort, daß ihm leichter zumute wurde und er sich von dem
Gespräche mit Ljewin erholte, der ihn immer zu einer übermäßigen geistigen und seelischen Anspannung
veranlaßte.
Der Tatar erschien mit der Rechnung im Betrage von sechsundzwanzig Rubeln und einigen Kopeken, wozu dann noch
das Trinkgeld kam; aber Ljewin, der als Bewohner des platten Landes zu anderer Zeit einen gewaltigen Schreck über
eine Rechnung bekommen hätte, bei der auf sein Teil vierzehn Rubel entfielen, beachtete dies jetzt gar nicht,
bezahlte und begab sich nach Hause, um sich umzukleiden und dann zu Schtscherbazkis zu fahren, wo sich sein
Schicksal entscheiden sollte.
Fußnoten
1 (frz.) der vornehmen jungen Leute von
Petersburg.
12
Die Prinzessin Kitty Schtscherbazkaja war achtzehn Jahre alt; es war der erste Winter, in dem sie Gesellschaften
besuchte. Ihre Erfolge auf diesem Gebiete waren größer als die ihrer beiden älteren Schwestern, sogar größer, als
die Fürstin erwartet hatte. Nicht nur, daß die tanzenden jungen Männer auf den Moskauer Bällen fast sämtlich in
Kitty verliebt waren, sondern es hatten sich auch gleich im ersten Winter zwei ernstliche Bewerber für sie
gefunden: Ljewin und unmittelbar nach dessen Abreise Graf Wronski.
Ljewins Erscheinen in der Moskauer Gesellschaft zu Anfang des Winters, seine häufigen Besuche und seine
augenscheinliche Liebe zu Kitty gaben Kittys Eltern den ersten Anlaß, miteinander ernsthaft über die Zukunft ihrer
Tochter zu reden, wobei es zwischen dem Fürsten und der Fürstin zum Streit kam. Der Fürst stand auf Ljewins Seite
und erklärte, er könne sich für Kitty gar keinen besseren Mann wünschen. Die Fürstin dagegen äußerte sich nach der
den Frauen eigenen Gewohnheit, den Kernpunkt einer Frage zu umgehen, dahin, daß Kitty noch zu jung sei, daß Ljewin
durch nichts ernste Absichten erkennen lasse, daß Kitty keine Neigung für ihn empfinde, und was es an derartigen
Gründen mehr gab; ihren Hauptgrund aber sprach sie nicht aus, daß sie nämlich für ihre Tochter auf eine bessere
Partie hoffe, daß
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