Anna Karenina
jedenfalls nichts Entsetzliches dabei. Jedes junge Mädchen ist auf einen
Heiratsantrag stolz.«
»Ja, jedes junge Mädchen, aber nicht sie.«
Stepan Arkadjewitsch lächelte. Er verstand Ljewins Gefühl sehr wohl und wußte, daß für diesen jetzt alle jungen
Mädchen auf der Welt in zwei Klassen zerfielen: die eine Klasse umfaßte alle jungen Mädchen auf der Welt außer ihr,
und diese jungen Mädchen hatten sämtlich menschliche Schwächen und waren eben junge Mädchen von ganz gewöhnlichem
Schlage; die andere Klasse wurde von ihr allein gebildet, von ihr, die keinerlei Schwächen an sich hatte und hoch
über allem stand, was Mensch hieß.
»Warte mal, nimm doch Sauce!« sagte er und hielt Ljewins Hand fest, der die ihm dargereichte Sauce
zurückwies.
Gehorsam nahm Ljewin, ließ aber Stepan Arkadjewitsch nicht zum Essen kommen.
»Nein, warte mal, warte mal!« sagte er. »Mach dir doch klar, daß es sich bei dieser Frage für mich um Leben und
Tod handelt. Ich habe noch nie mit jemand davon gesprochen und kann auch mit niemand als mit dir davon sprechen.
Wir beide, du und ich, sind ja in jeder Beziehung verschieden geartet; anderer Geschmack, andere Anschauungen,
alles verschieden; aber ich weiß, daß du mich gern hast und mich verstehst, und darum empfinde ich auch eine so
starke, herzliche Zuneigung zu dir. Aber ich beschwöre dich, sei ganz aufrichtig!«
»Was ich für meine Person glaube, habe ich dir schon gesagt«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch lächelnd. »Ich will
dir aber noch mehr sagen: Meine Frau ist ein im höchsten Grade bewundernswertes Wesen ...«, hier seufzte Stepan
Arkadjewitsch in Erinnerung an sein Verhältnis zu seiner Frau und fuhr erst nach kurzem Stillschweigen fort: »Sie
besitzt die Gabe, in die Zukunft zu sehen. Sie durchschaut die Menschen durch und durch; und damit nicht genug, sie
weiß auch voraus, was geschehen wird, namentlich auf dem Gebiete der Heiraten. So hat sie zum Beispiel
vorhergesagt, daß Fräulein Schachowskaja diesen Herrn Brenteln heiraten werde. Kein Mensch wollte es glauben, und
doch kam es so. Und sie steht ganz auf deiner Seite.«
»Inwiefern?«
»Insofern, als sie dich nicht nur gut leiden kann, sondern auch erklärt, Kitty werde ganz sicher deine Frau
werden.«
Bei diesen Worten überzog auf einmal ein strahlendes Lächeln Ljewins Gesicht, ja es waren ihm die Tränen der
Rührung ganz nahe.
»Das sagt sie?« rief er aus. »Ich habe es ja immer gesagt, daß deine Frau ein herrliches Weib ist. Nun, aber
jetzt genug davon, genug!« fügte er hinzu und stand von seinem Platze auf.
»Schön, schön! Aber bleib doch sitzen!«
Jedoch zum Sitzen hatte Ljewin in diesem Augenblick keine Ruhe. Zweimal durchmaß er mit seinen festen Schritten
das Zimmer wie einen Käfig und zwinkerte mit den Augen, damit die Tränen nicht zu sehen wären; dann erst setzte er
sich wieder an den Tisch.
»Du mußt wissen«, sagte er, »daß das nicht nur so einfach Liebe ist. Verliebt bin ich auch sonst schon mitunter
gewesen; aber dies ist etwas ganz anderes. Es ist gar nicht wie mein eigenes Gefühl, sondern als ob eine Art von
äußerer Gewalt sich meiner bemächtigt hätte. Ich bin ja damals weggefahren, weil ich zu der Überzeugung gelangt
war, daß diese Sache schlechterdings unmöglich sei, verstehst du, unmöglich wie ein Glück, das es auf Erden nicht
gibt; aber ich habe mit mir selbst gerungen und sehe ein, daß, wenn ich dies nicht erreiche, es für mich kein Leben
gibt. Und nun muß es zur Entscheidung kommen!«
»Warum bist du denn damals eigentlich abgereist?«
»Warte doch nur, warte! Ach, wie viele Gedanken jetzt auf mich einstürmen! Wie vielerlei muß ich dich noch
fragen! Höre zu! Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, was für eine Wohltat du mir mit dem erwiesen hast, was du
mir sagtest. Ich bin so glücklich, daß ich sogar schlecht geworden bin; denn ich habe alles andere darüber
vergessen. Ich habe heute erfahren, daß mein Bruder Nikolai ... weißt du, er ist jetzt hier ... auch den habe ich
ganz vergessen. Ich habe die Vorstellung, daß auch er glücklich ist. Das ist bei mir wie eine Art Irrsinn. Aber
eines ist mir schrecklich. – Du hast dich ja auch verheiratet und wirst dieses Gefühl kennen. – Schrecklich ist mir
das Bewußtsein, daß wir keine neuen, reinen Menschen mehr sind, daß wir schon eine Vergangenheit haben, nicht in
der Liebe, sondern in der Sünde. – Und nun nähern wir uns auf einmal einem
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