Anna Karenina
verzeihen und, wenn er zu spät käme, ihr die letzte Ehre erweisen.
Während der ganzen Reise dachte er nicht mehr an das, was er dort werde zu tun haben.
Mit jenem Gefühle von Müdigkeit und Unsauberkeit, das die Folge einer Nacht im Eisenbahnwagen zu sein pflegt,
fuhr Alexei Alexandrowitsch durch den Petersburger Morgennebel den noch menschenleeren Newski-Prospekt entlang und
blickte vor sich hin, ohne an das zu denken, was ihn zu Hause erwartete. Es widerstrebte ihm, daran zu denken; denn
sobald er sich die bevorstehenden Möglichkeiten vergegenwärtigte, vermochte er den Gedanken nicht zu verscheuchen,
daß ihr Tod mit einem Schlage alle Schwierigkeiten seiner Lage lösen würde. Die Brotverkäufer, die geschlossenen
Läden, die Nachtdroschken, die Hausknechte, die den Fußsteig fegten: alle diese Bilder huschten vor seinen Augen
vorüber, und er beobachtete dies alles mit der Absicht, in seinem Kopfe den Gedanken an das, was ihn erwartete und
was er nicht zu wünschen wagte und doch wünschte, zu übertäuben. Er fuhr bei seinem Hause vor. Eine Droschke und
ein Geschirr mit einem schlafenden Kutscher hielten vor der Tür. Als Alexei Alexandrowitsch in die Vorhalle trat,
holte er gleichsam aus einem entlegenen Winkel seines Gehirnes den vorher gefaßten Entschluß heraus und machte ihn
sich wieder geläufig. Der Inhalt dieses Entschlusses war: wenn es ein Täuschungsversuch ist, ruhige Verachtung und
Abreise; wenn es Wahrheit ist, Wahrung des äußeren Anstandes.
Der Pförtner öffnete die Tür, noch ehe Alexei Alexandrowitsch klingelte. Der Pförtner Petrow, alias
Kapitonütsch, sah in seinem alten Rocke, ohne Halsbinde und in Pantoffeln recht sonderbar aus.
»Was macht die gnädige Frau?«
»Die gnädige Frau ist gestern glücklich entbunden worden.«
Alexei Alexandrowitsch blieb stehen und wurde ganz blaß. Jetzt kam es ihm deutlich zum Bewußtsein, wie stark er
ihren Tod gewünscht hatte.
»Und wie ist ihr Befinden?«
Kornei, mit der Morgenschürze, kam die Treppe heruntergelaufen.
»Es steht sehr schlimm«, antwortete er. »Gestern hat eine Beratung mehrerer Ärzte stattgefunden, und der
Hausarzt ist auch jetzt da.«
»Nimm das Gepäck«, sagte Alexei Alexandrowitsch. Er empfand ein gewisses Gefühl der Erleichterung infolge der
Nachricht, daß doch noch Hoffnung auf ihren Tod bestand; so ging er in das Vorzimmer.
Am Kleiderständer hing ein Militärmantel. Alexei Alexandrowitsch bemerkte ihn und fragte:
»Wer ist da?«
»Der Arzt, die Hebamme und Graf Wronski.«
Alexei Alexandrowitsch ging weiter in die inneren Zimmer.
Im Salon war niemand; aus Annas Wohnzimmer kam auf das Geräusch seiner Schritte die Hebamme in einer Haube mit
lila Bändern heraus.
Sie trat auf Alexei Alexandrowitsch zu, ergriff ihn mit der Vertraulichkeit, die die Nähe des Todes mit sich
bringt, bei der Hand und wollte ihn nach dem Schlafzimmer führen.
»Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind! Nur von Ihnen spricht sie, immer nur von Ihnen«, sagte sie.
»Geben Sie schnell Eis her, schnell!« ertönte aus dem Schlafzimmer die Stimme des Arztes in befehlendem
Tone.
Alexei Alexandrowitsch trat in Annas Wohnzimmer. An ihrem Tische saß auf einem niedrigen Stuhle, seitwärts zur
Lehne, Wronski; er hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt und weinte. Als er die Stimme des Arztes hörte, sprang
er auf, nahm die Hände vom Gesicht und erblickte Alexei Alexandrowitsch. Beim Anblick des Ehemannes wurde er so
verwirrt, daß er sich wieder hinsetzte und den Kopf in die Schultern zog, als wenn er irgendwohin zu verschwinden
wünschte; aber dann nahm er sich gewaltsam zusammen, stand auf und sagte:
»Sie liegt im Sterben. Die Ärzte haben gesagt, es sei keine Hoffnung mehr. Ich füge mich durchaus Ihrer
Entscheidung; aber ich bitte Sie, mir zu gestatten, daß ich hierbleibe ... Indessen, ganz wie Sie darüber
bestimmen; ich ...«
Als Alexei Alexandrowitsch sah, daß Wronski weinte, merkte er, daß ihn wieder jene seelische Verwirrung überkam,
die der Anblick des Leidens anderer bei ihm regelmäßig hervorrief; er wandte das Gesicht ab und ging, ohne das, was
jener sagte, zu Ende zu hören, rasch auf die Tür zu. Aus dem Schlafzimmer war Annas Stimme zu vernehmen, die irgend
etwas sagte. Ihre Stimme klang heiter, lebhaft und außerordentlich fein abgetönt. Alexei Alexandrowitsch trat in
das Schlafzimmer und näherte sich dem Bette. Sie lag so, daß sie ihm das Gesicht zuwandte. Ihre Wangen
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