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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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gestehe Ihnen, daß mich der Gedanke nicht losließ, mich an Ihnen und an ihr zu
    rächen. Als ich das Telegramm erhielt, fuhr ich noch mit denselben Gefühlen hierher, ja, ich muß noch mehr sagen:
    ich wünschte ihren Tod. Aber ...«, er schwieg ein Weilchen, unschlüssig, ob er ihm das, was er jetzt empfand,
    aufdecken solle oder nicht. »Aber da sah ich sie wieder und habe ihr verziehen. Und aus der seligen Empfindung beim
    Verzeihen habe ich gelernt, was meine Pflicht ist. Ich habe ihr völlig verziehen. Ich will auch die andere Backe
    hinhalten; ich will auch den Rock hingeben, wenn man mir den Mantel nimmt. Ich bitte Gott nur um das eine, daß er
    mir die Seligkeit des Verzeihens nicht nehmen möge!«
    Die Tränen standen ihm in den Augen, und ihr heller, ruhiger Blick überraschte Wronski.
    »Das ist jetzt meine Lage. Und nun können Sie mich in den Schmutz treten und mich zum Gespött der Welt machen:
    ich werde sie nicht verlassen und Ihnen nie ein Wort des Vorwurfs sagen«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort: »Meine
    Pflicht ist mir klar vorgezeichnet: ich muß mit ihr zusammenbleiben, und ich werde es tun. Sollte sie wünschen, Sie
    zu sehen, so werde ich Sie es wissen lassen; aber jetzt, möchte ich meinen, wird es das beste sein, wenn Sie sich
    entfernen.«
    Er stand auf; vor Schluchzen konnte er nicht weiterreden. Wronski erhob sich gleichfalls und blickte ihn, ohne
    sich gerade zu richten, in gebeugter Haltung von unten her an. Ein volles Verständnis hatte er für Alexei
    Alexandrowitschs Empfindungen nicht. Aber so viel fühlte er doch, daß in dieser Weltanschauung etwas Hohes, für ihn
    geradezu Unerreichbares lag.
Fußnoten
    1 (lat.) Wen Gott verderben will, den
    schlägt er mit Blindheit.

18
    Nach diesem Gespräche mit Alexei Alexandrowitsch trat Wronski vor das Tor des Kareninschen Hauses hinaus, blieb
    dort stehen und sammelte mit Mühe seine Gedanken, um zu wissen, wo er sei und wohin er nun gehen oder fahren solle.
    Er fühlte sich beschämt, erniedrigt, schuldig und der Möglichkeit beraubt, seine Demütigung abzuwaschen. Er fühlte
    sich aus dem Geleise herausgedrängt, in dem er sich bisher so stolz und leicht vorwärts bewegt hatte. Alle die
    Gewohnheiten und Grundsätze seines Lebens, die ihm so sicher und fest erschienen waren, hatten sich als falsch und
    unbrauchbar erwiesen. Der betrogene Gatte, den er sich bisher als ein klägliches Wesen, als ein zufälliges,
    einigermaßen lächerliches Hindernis seines Glückes vorgestellt hatte, war plötzlich von ihr selbst herbeigerufen
    und zu einer ehrfurchtgebietenden Höhe hinaufgehoben worden, und dieser Gatte erschien auf dieser Höhe nicht als
    ein schlechter, unwahrhaftiger, lächerlicher Mensch, sondern als ein guter, offener und edler. Dieser Erkenntnis
    konnte Wronski sich nicht verschließen. Die Rollen waren plötzlich vertauscht. Wronski fühlte seines Gegners
    sittliche Höhe und gerechtes Verhalten und seine eigene Niedrigkeit und Rechtsverletzung. Er fühlte, daß der Gatte
    sogar in seinem schweren Kummer sich großmütig, er selbst aber in seinem Betruge sich niedrig und erbärmlich
    gezeigt hatte. Aber dieses Bewußtsein seiner eigenen Niedrigkeit gegenüber dem Manne, den er ungerechterweise
    verachtet hatte, machte nur einen kleinen Teil seiner Seelenpein aus. Er fühlte sich jetzt deswegen unsäglich
    elend, weil seine Liebesleidenschaft, die seiner eigenen Empfindung nach in der letzten Zeit schon im Erkalten
    begriffen gewesen war, jetzt, wo er wußte, daß er Anna für immer verloren hatte, stärker geworden war als je zuvor.
    Er hatte während ihrer Krankheit auf den tiefsten Grund ihres Herzens gesehen, ihre ganze Seele kennengelernt, und
    es schien ihm, als habe er sie bisher noch nie wahrhaft geliebt. Und jetzt, wo er sie erkannt hatte und sie liebte,
    wie sie geliebt zu werden verdiente, jetzt stand er als ein Erniedrigter vor ihr da, hatte sie für immer verloren
    und war für sie in Zukunft nichts weiter als eine beschämende Erinnerung. Am allerschrecklichsten aber war seine
    lächerliche, schmähliche Lage gewesen, als er vor Scham hatte vergehen wollen und Alexei Alexandrowitsch ihm die
    Hände vom Gesichte weggezogen hatte. Er stand wie verwirrt vor dem Tor des Kareninschen Hauses und wußte nicht, was
    er tun sollte.
    »Befehlen Sie eine Droschke?« fragte der Pförtner.
    »Ja, eine Droschke.«
    Nach Hause zurückgekehrt, streckte sich Wronski nach den drei schlaflos verbrachten Nächten, ohne

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