Anna Karenina
Er glaubte, den Menschen nun wieder ohne Scham in die
Augen blicken zu können, und war wieder imstande, so zu leben, wie es seinen Gewohnheiten entsprach. Das einzige,
was er nicht aus seinem Herzen herauszureißen vermochte, obwohl er unaufhörlich gegen dieses Gefühl ankämpfte, war
der an Verzweiflung grenzende Kummer darüber, daß er Anna für immer verloren hatte. In seinem Herzen sagte er sich
mit aller Bestimmtheit und Festigkeit, daß er jetzt, wo er seine Schuld ihrem Manne gegenüber gebüßt hatte,
verpflichtet sei, ihr zu entsagen, und sich in Zukunft niemals zwischen die Reuige und ihren Mann stellen dürfe;
aber er war nicht imstande, den Schmerz über den Verlust ihrer Liebe aus seinem Herzen zu reißen, nicht imstande,
jene Augenblicke des Glückes, die er mit ihr genossen, damals aber so wenig zu schätzen gewußt hatte, aus seinem
Gedächtnisse wegzuwischen, die Erinnerung daran verfolgte ihn jetzt mit ihrem ganzen zauberhaften Reize.
Serpuchowskoi war auf den Gedanken einer Versetzung Wronskis nach Taschkent gekommen, und Wronski war auf diesen
ihm gemachten Vorschlag, ohne einen Augenblick zu schwanken, eingegangen. Aber je näher der Augenblick der Abreise
heranrückte, um so schwerer wurde ihm das Opfer, das er dem, was er für seine Pflicht hielt, brachte.
Seine Wunde war geheilt, und er fuhr bereits häufig aus, um die nötigen Vorbereitungen für die Abreise nach
Taschkent zu treffen.
›Nur ein einziges Mal noch möchte ich sie sehen, und dann will ich mich vergraben und sterben‹, dachte er und
sprach, als er seine Abschiedsbesuche machte, diesen Gedanken Betsy gegenüber aus. Mit dieser Aufgabe war dann
Betsy von ihm zu Anna gefahren und hatte ihm darauf ihre abschlägige Antwort übermittelt.
›Um so besser‹, dachte Wronski, als er diese Nachricht erhielt. ›Es war das eine Schwäche, die meine letzten
Kräfte vernichtet haben würde.‹
Am Morgen des folgenden Tages kam Betsy selbst zu ihm und teilte ihm mit, Anna habe von Oblonski die bestimmte
Nachricht erhalten, daß Alexei Alexandrowitsch in die Scheidung willige und Wronski sie daher wiedersehen
dürfe.
Er dachte in seiner Aufregung nicht einmal daran, Betsy aus seiner Wohnung hinauszubegleiten; er vergaß alle
seine Entschlüsse; er ließ nicht fragen, wann er Anna sprechen könne und wo ihr Mann sei; – er fuhr sofort,
unverzüglich zu Karenins. Er stürmte die Treppe hinauf, ohne irgend jemand oder irgend etwas zu sehen, und trat
schnellen Schrittes, indem er sich nur mühsam enthielt, geradezu zu laufen, in ihr Zimmer. Und ohne daran zu denken
und sich darum zu kümmern, ob sonst noch jemand im Zimmer sei oder nicht, umarmte er sie und bedeckte ihr Gesicht,
ihre Hände und ihren Hals mit Küssen.
Anna hatte sich auf dieses Wiedersehen vorbereitet gehabt und überlegt, was sie ihm sagen würde; aber sie kam
nicht dazu, etwas davon zu sagen; seine Leidenschaft überwältigte sie. Sie wollte ihn beruhigen, sich selbst
beruhigen; aber es war schon zu spät. Seine Erregung teilte sich ihr mit. Ihre Lippen zitterten so, daß sie lange
nicht zu reden vermochte.
»Ja, du hast mich erobert, ich bin dein«, brachte sie endlich hervor und drückte seine Hände gegen ihre
Brust.
»So mußte es kommen!« sagte er. »Und solange wir leben, muß es so bleiben. Das weiß ich jetzt.«
»Das ist wahr«, erwiderte sie; sie wurde immer blasser und umfaßte seinen Kopf mit beiden Händen. »Und doch
liegt etwas Furchtbares darin, nach allem, was vorhergegangen ist.«
»Es wird alles vorübergehen, es wird alles vorübergehen, und wir werden so glücklich sein! Könnte unsere Liebe
noch gesteigert werden, so würde sie gerade dadurch gesteigert werden, daß etwas Furchtbares in ihr liegt«,
versetzte er, hob den Kopf in die Höhe und lächelte, so daß seine starken Zähne sichtbar wurden.
Und sie konnte nicht anders, sie mußte mit einem Lächeln antworten, nicht auf seine Worte, sondern auf seine
Blicke voll heißer Liebe. Sie ergriff seine Hand und streichelte mit ihr ihre kalt gewordenen Wangen und das
kurzgeschorene Haar.
»Ich erkenne dich kaum wieder mit diesem kurzen Haar. Du bist noch hübscher geworden, ein Knabe. Aber wie blaß
du bist!«
»Ja, ich bin sehr schwach«, erwiderte sie lächelnd. Und ihre Lippen zitterten wieder.
»Wir reisen nach Italien; da wirst du dich schon erholen«, sagte er.
»Ist denn das möglich, daß wir wie Mann und Frau miteinander leben werden, wir beide
Weitere Kostenlose Bücher