Anna Karenina
allein als eine Familie?«
sagte sie und blickte ihm aus nächster Nähe in die Augen.
»Mich hat nur gewundert, daß es jemals anders sein konnte.«
»Stiwa sagt, daß er (das war ihr Mann) in alles willigt; aber ich kann seine Großmut nicht annehmen«, sagte sie,
indem sie nachdenklich an Wronskis Gesicht vorbeiblickte. »Ich will die Scheidung gar nicht; mir ist jetzt alles
gleich. Ich weiß nur nicht, was er über Sergei beschließen wird.«
Es war ihm völlig unverständlich, wie sie in diesem Augenblick des Wiedersehens an ihren Sohn und an die
Scheidung denken und davon reden konnte. War denn das jetzt nicht ganz gleichgültig?
»Sprich nicht davon, denke nicht daran«, bat er; er drehte ihre Hand in der seinigen hin und her und versuchte,
ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; aber sie sah ihn noch immer nicht an.
»Ach, warum bin ich nicht gestorben; das wäre das beste gewesen!« sagte sie; die Tränen strömten ihr still, ohne
Schluchzen, über beide Wangen. Aber sie gab sich Mühe zu lächeln, um ihn nicht zu kränken.
Eine Ablehnung der auszeichnenden Ernennung auf den gefährlichen Posten in Taschkent wäre nach Wronskis früheren
Anschauungen ein schmähliches Benehmen und ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Jetzt aber trat er, ohne sich einen
Augenblick zu besinnen, zurück und nahm, als er bemerkte, daß dieser Schritt höheren Ortes mißbilligt wurde, sofort
den Abschied.
Einen Monat darauf war Alexei Alexandrowitsch mit seinem Sohn allein in der Wohnung zurückgeblieben; Anna war
mit Wronski ins Ausland gereist. Eine Scheidung der Ehe war nicht erfolgt; Anna hatte sie entschieden
abgelehnt.
1
Die Fürstin Schtscherbazkaja fand eigentlich, daß es ein Ding der Unmöglichkeit war, die Hochzeit noch vor den
Fasten auszurichten, bis zu denen nur noch fünf Wochen Zeit blieb; bis zu diesem Zeitpunkt konnte kaum die Hälfte
der Ausstattung fertiggestellt werden; aber sie mußte Ljewin darin recht geben, daß die Ansetzung auf die Zeit erst
nach den Fasten sich leicht als eine allzu späte herausstellen konnte, da eine alte Tante des Fürsten
Schtscherbazki schwerkrank war, möglicherweise bald starb und dann wegen der Trauer eine noch weitere
Hinausschiebung der Hochzeit nötig werden würde. Die Fürstin willigte daher doch ein, daß die Hochzeit schon vor
den Fasten gefeiert werden sollte, und entschloß sich, die Ausstattung in zwei Teile, einen größeren und einen
kleineren, zu teilen. Und zwar wollte sie den kleineren Teil der Ausstattung gleich jetzt vollständig
fertigstellen, den größeren aber später nachschicken, und sie war recht ärgerlich auf Ljewin, weil er es durchaus
nicht fertigbringen konnte, ihr eine ernsthafte Antwort auf die Frage zu geben, ob er mit dieser Einrichtung
einverstanden sei oder nicht. Diese Einrichtung war um so zweckmäßiger, als das junge Paar gleich nach der Hochzeit
auf das Gut fahren wollte, wo sie die Bestandteile des größeren Teiles der Ausstattung nicht nötig hatten.
Bei Ljewin dauerte immer noch jener Zustand der Verwirrung fort, nach dem er die Vorstellung hatte, daß er und
sein Glück den wichtigsten, ja einzigen Zweck der ganzen Welt bildeten und daß er jetzt an nichts anderes zu denken
und sich um nichts zu kümmern brauche, sondern alles für ihn von anderen Leuten getan und besorgt werden würde.
Nicht einmal irgendwelche Pläne und Ziele für sein künftiges Leben hatte er; die Entscheidung darüber stellte er
anderen anheim, in der zuversichtlichen Überzeugung, daß sich auf diese Art alles wunderschön gestalten werde. Sein
Bruder Sergei Iwanowitsch, Stepan Arkadjewitsch und die Fürstin gaben ihm in allen Dingen Anweisung, was er zu tun
habe, und er war immer mit allem, was sie ihm vorschlugen, völlig einverstanden. Sein Bruder nahm eine Hypothek für
ihn auf; die Fürstin riet ihm, nach der Hochzeit aus Moskau wegzufahren. Stepan Arkadjewitsch empfahl ihm, ins
Ausland zu reisen. Mit allem war er einverstanden. ›Richtet alles ein, wie ihr wollt, wenn euch das Vergnügen
macht. Ich bin glücklich, und mein Glück kann dadurch weder größer noch kleiner werden, wie ihr auch die Sache
einrichten mögt‹, dachte er. Als er Kitty von Stepan Arkadjewitschs Rat, ins Ausland zu reisen, Mitteilung machte,
war er sehr verwundert, daß sie damit nicht einverstanden war, sondern über ihr beiderseitiges künftiges Leben ihre
eigenen, ganz bestimmten Gedanken hegte. Sie wußte, daß Ljewin auf dem Gute
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