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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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eine Tätigkeit hatte, die er gern
    ausübte. Obwohl sie nun, wie er sah, von dieser Tätigkeit nichts verstand, ja auch nichts davon verstehen wollte,
    so hinderte sie das doch nicht daran, diese Tätigkeit für etwas sehr Wichtiges zu halten. Und daher sagte sie sich,
    daß sie ihr ständiges Heim würden auf dem Lande haben müssen, und mochte nicht ins Ausland reisen, wo sie doch
    nicht lange würden wohnen können, sondern dahin, wo ihr Heim sein würde. Dieser bestimmt ausgesprochene Wille
    versetzte Ljewin in Verwunderung. Aber da es ihm ganz gleich war, so bat er sofort Stepan Arkadjewitsch, wie wenn
    das dessen Pflicht gewesen wäre, nach dem Gute zu fahren und dort alles, was er für nötig erachten würde, mit jenem
    Geschmack, der ihm in so hohem Maße eigen sei, einzurichten.
    »Aber höre mal«, sagte Stepan Arkadjewitsch nach seiner Rückkehr vom Gute, wo er alles für die Ankunft des
    jungen Paares vorbereitet hatte, gelegentlich zu Ljewin, »hast du denn auch ein Beichtzeugnis?«
    »Nein, wieso?«
    »Ohne das kannst du nicht getraut werden.«
    »O weh, o weh, o weh!« rief Ljewin. »Ich glaube, ich bin seit neun Jahren nicht mehr zum Abendmahl gewesen.
    Daran habe ich ja gar nicht gedacht.«
    »Na, du bist gut!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch lachend. »Und dabei nennst du mich einen Nihilisten! Aber das
    ist unumgänglich. Du mußt dich zum Abendmahl vorbereiten.«
    »Aber wann denn? Wann? Es sind ja nur noch vier Tage!«
    Stepan Arkadjewitsch leitete auch hier alles Erforderliche ein, und Ljewin begann, sich zum Abendmahl
    vorzubereiten. Für Ljewin, der selbst nicht gläubig war, dabei aber doch den Glauben anderer achtete, war es immer
    schon eine schwere, peinliche Aufgabe gewesen, bei irgendwelchen kirchlichen Zeremonien zugegen sein und sich daran
    beteiligen zu müssen. Jetzt nun vollends in der empfindsamen, weichen Gemütsstimmung, in der er sich befand, kam es
    ihm nicht nur schwer an, daß er heucheln sollte, sondern es erschien ihm geradezu unmöglich. Jetzt, wo er sich so
    groß und gehoben fühlte, wo alles in ihm sproßte und blühte, jetzt sollte er entweder lügen oder mit der Religion
    Spott treiben. Weder das eine noch das andere zu tun, fühlte er sich imstande. Aber soviel er auch Stepan
    Arkadjewitsch mit Fragen zusetzte, ob er nicht das Zeugnis ohne diese Vorbereitung erhalten könne, Stepan
    Arkadjewitsch erklärte das für unmöglich.
    »Na, und was hast du denn auch für Mühe damit? Zwei Tage! Und er ist ein so nettes, verständiges altes Männchen.
    Er zieht dir diesen Zahn so, daß du gar nichts davon merkst.«
    Als Ljewin der ersten Messe beiwohnte, versuchte er, in seiner Seele die Erinnerung aus seiner Jugendzeit wieder
    lebendig zu machen, die Erinnerungen an jene Zeit starken religiösen Empfindens, die er von seinem sechzehnten bis
    zu seinem siebzehnten Lebensjahre durchgemacht hatte; aber er gelangte sehr schnell zu der Überzeugung, daß das für
    ihn völlig unmöglich sei. Dann versuchte er, dieses ganze Kirchenwesen wie einen leeren, bedeutungslosen Brauch
    anzusehen, ähnlich dem des Abstattens von Visiten; aber er fühlte, daß er sich auch auf diesen Standpunkt nicht zu
    stellen vermochte. Wie die Mehrzahl seiner Alters- und Standesgenossen befand sich Ljewin der Religion gegenüber in
    einer sehr unbestimmten Stellung. Zu glauben vermochte er an die Lehre der Kirche nicht, er war aber gleichzeitig
    auch nicht fest davon überzeugt, daß sie so ganz und gar unrichtig sei. Da er deshalb nicht imstande war, an die
    Bedeutsamkeit dessen, was er jetzt tat, zu glauben, und ebensowenig, es mit Gleichgültigkeit wie eine leere
    Förmlichkeit anzusehen, so wurde er während dieser ganzen Vorbereitungszeit ein Gefühl der Verlegenheit und Scham
    darüber nicht los, daß er etwas tue, wofür er kein Verständnis habe, also, wie ihm eine innere Stimme sagte, etwas
    Unwahrhaftiges und Schlechtes.
    Während des Gottesdienstes hörte er bald auf die Gebete hin und bemühte sich, ihnen eine Bedeutung unterzulegen,
    die sich mit seinen Anschauungen in Übereinstimmung bringen ließe, bald wieder, wenn er merkte, daß er für diese
    Gebete doch kein Verständnis habe und sie ablehnen müsse, gab er sich Mühe, nicht hinzuhören, und beschäftigte sich
    mit seinen Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen, die ihm, während er so müßig in der Kirche dastand, mit
    besonderer Lebhaftigkeit durch den Kopf gingen.
    Er wohnte der Mittagsmesse, der Nachmittagsmesse und dem

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