Anna Karenina
seinerzeit Wronski.
»Du bist aufgeregt, und ich finde das sehr verständlich. Aber wenn du dir die Sache recht überlegst ...«
›Und wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem biete auch die linke dar, und wer dir den Mantel nimmt, dem gib
auch den Rock‹, dachte Alexei Alexandrowitsch.
»Ja, ja!« rief er mit weinerlicher Stimme. »Ich will die Schmach auf mich nehmen und will sogar meinen Sohn
hingeben; aber ... aber wäre es nicht doch besser, das alles zu unterlassen? Indes tu, was du willst ...«
Er wandte sich von seinem Schwager weg, damit dieser nicht sein Gesicht sehen könne, und setzte sich auf einen
Stuhl am Fenster. Leid und Scham erfüllten sein Herz; aber zugleich mit dem Leid und der Scham empfand er eine
gewisse Freude und Rührung über die Größe seiner Demut.
Stepan Arkadjewitsch war ergriffen. Er schwieg einige Augenblicke.
»Alexei Alexandrowitsch«, begann er dann, »glaube mir, sie wird deine Großmut zu schätzen wissen ... Aber es war
offenbar Gottes Wille so«, fügte er hinzu, merkte jedoch, sobald er das gesagt hatte, daß es dumm und unpassend
war, und unterdrückte nur mit Mühe ein Lächeln über seinen törichten Mißgriff.
Alexei Alexandrowitsch wollte etwas antworten, konnte aber vor Tränen nicht sprechen.
»Es ist ein vom Schicksal verhängtes Unglück, und das muß man hinnehmen. Ich erkenne dieses Unglück als
vollendete Tatsache an und bemühe mich, sowohl meiner Schwester wie auch dir zu helfen«, sagte Stepan
Arkadjewitsch.
Als er das Zimmer seines Schwagers verließ, war er gerührt; aber das hinderte ihn nicht, sehr zufrieden darüber
zu sein, daß er diese Angelegenheit glücklich erledigt hatte; denn er war überzeugt, daß Alexei Alexandrowitsch von
seiner Zusage nicht wieder zurücktreten werde. Zu diesem Gefühle der Befriedigung gesellte sich noch die Freude
über einen guten Einfall, der ihm gekommen war. Wenn nämlich diese Sache ganz erledigt sein würde, dann wollte er
seiner Frau und seinen nächsten Bekannten ein Rätsel vorlegen: ›Welcher Unterschied ist zwischen mir und einem
Chirurgen? Wenn ein Chirurg amputiert, so geht es dadurch allerhöchstens dem einen besser; ich aber habe eine
Amputation vorgenommen, durch die es gleich drei Menschen mit einem Male besser geht.‹ Oder: ›Welche Ähnlichkeit
ist zwischen mir und einem Chirurgen? Wenn der Chirurg ... Aber das muß ich erst noch besser zurechtmachen‹, dachte
er lächelnd.
23
Wronskis Wunde war gefährlich gewesen, obwohl die Kugel das Herz nicht verletzt hatte. Mehrere Tage lang hatte
er zwischen Leben und Tod geschwebt. Als er zum ersten Male wieder imstande war zu sprechen, befand sich nur Warja,
die Frau seines Bruders, bei ihm im Zimmer.
»Warja«, sagte er, indem er sie ernst anblickte, »ich habe mich zufällig durch einen Schuß verletzt. Bitte,
sprich zu mir nie davon und rede zu allen in diesem Sinne. Sonst nimmt sich die Sache gar zu dumm aus.«
Ohne darauf zu antworten, beugte Warja sich über ihn und blickte ihm mit frohem Lächeln ins Gesicht. Seine Augen
waren hell, nicht fieberhaft; aber sie hatten einen tiefernsten Ausdruck.
»Nun, Gott sei Dank!« sagte sie. »Hast du keine Schmerzen?«
»Hier ein wenig.« Er zeigte auf die Brust.
»Dann erlaube, ich will dir einen neuen Verband machen.«
Schweigend preßte er die breiten Kiefer zusammen und blickte seine Schwägerin an, während sie ihn verband. Als
sie damit fertig war, sagte er:
»Ich bin jetzt bei klarer Besinnung; bitte, wirke doch darauf hin, daß kein Gerede entsteht, als hätte ich
absichtlich auf mich geschossen.«
»Das wird ja auch niemand sagen. Ich hoffe nur, daß du in Zukunft nicht wieder unvorsichtig schießen wirst«,
versetzte sie mit einem fragenden Lächeln.
»Das werde ich ja wohl nicht tun; aber es wäre besser gewesen ...«
Er lächelte finster.
Trotz dieser Äußerung, über die, im Verein mit dieser Miene, Warja heftig erschrak, fühlte er, sobald die
Entzündung vorüber war und die Genesung eintrat, daß er von einem Teile seines Kummers vollständig frei geworden
war. Durch diese Tat hatte er sozusagen die Scham und die Demütigung, die er vorher empfunden hatte, von sich
abgewaschen. Er vermochte jetzt ruhig an Alexei Alexandrowitsch zu denken. Er erkannte dessen Großmut in vollem
Umfange an, fühlte sich aber selbst nicht mehr erniedrigt. Außerdem war er nun wieder in das alte Geleise
zurückgekehrt, in dem sich sein Leben früher bewegt hatte.
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