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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Abendgebete bei und kam am anderen Tage, nachdem er
    früher als gewöhnlich aufgestanden war, ohne Tee getrunken zu haben, um acht Uhr wieder in die Kirche, um das
    Morgengebet anzuhören und zu beichten.
    In der Kirche war niemand anwesend außer einem bettelnden Invaliden, zwei alten Weibern und dem
    Kirchenpersonal.
    Der junge Diakon, dessen Gestalt sich in dem dünnen Amtskleide scharf abhob, begrüßte ihn, trat dann sofort zu
    einem Tischchen an der Wand und begann die Gebete zu lesen. Während des Lesens und besonders bei der häufigen,
    schnellen Wiederholung derselben Worte: »Herr, erbarme dich!«, die sich dabei, stark verstümmelt, wie ein einziges
    Wort anhörten, hatte Ljewin die Empfindung, als ob seine Verstandeswelt verschlossen und versiegelt sei und er sie
    jetzt nicht anrühren und in Bewegung setzen dürfe, um sie nicht völlig in Verwirrung zu bringen; und daher fuhr er,
    hinter dem Diakon stehend, fort, sich seinen eigenen Gedanken zu überlassen, ohne auf die Gebete hinzuhören und
    aufzumerken. ›Ganz erstaunlich ist doch, wie ausdrucksvoll ihre Hand ist‹, dachte er, in Erinnerung daran, wie sie
    gestern zusammen an einem Ecktisch gesessen hatten. Sie hatten, wie fast immer während dieser ganzen Zeit, nicht
    recht gewußt, wovon sie reden sollten, und so hatte sie ihre Hand auf den Tisch gelegt und sie abwechselnd auf und
    zu gemacht und selbst gelacht, indem sie die Bewegung ihrer Hand beobachtete. Er dachte daran, wie er ihre Hand
    geküßt und dann die zusammenlaufenden Linien auf der rosigen Innenseite betrachtet hatte. ›Wieder dieses verkürzte
    »Herr, erbarme dich!«‹ dachte Ljewin, indem er sich bekreuzte, verneigte und dabei die geschmeidigen Bewegungen des
    Diakons beobachtete. ›Dann nahm sie meine Hand und betrachtete die Linien darin. »Du hast eine prachtvolle Hand«‹,
    sagte sie. Und nun blickte er auf seine Hand und dann auf die kurzfingerige Hand des Diakons. ›Ja, jetzt ist es
    bald zu Ende‹, hoffte er. ›Nein, ich glaube, es geht noch einmal von Anfang los‹, dachte er, indem er nach den
    Gebeten hinhörte. ›Nein, es ist doch zu Ende; da, er machte ja schon eine Verbeugung bis zur Erde. Das ist immer
    dicht vor dem Schluß.‹
    Der Diakon nahm mit der Hand, die in dem Plüschaufschlag des Ärmels steckte, scheinbar ohne es selbst zu
    bemerken, einen Dreirubelschein in Empfang, sagte, er werde Ljewin in die Liste eintragen, und ging in das
    Allerheiligste, wobei seine neuen Stiefel auf den Steinplatten der leeren Kirche einen kräftigen Klang erweckten.
    Eine Minute darauf blickte er von dort wieder hervor und winkte Ljewin mit der Hand. Die bisher verschlossene
    Verstandeswelt in Ljewins Kopfe wollte jetzt anfangen sich zu regen; aber er scheuchte sie eiligst zurück. ›Es wird
    sich schon irgendwie machen‹, dachte er und ging zum Altar. Er stieg die Stufen hinan, wandte sich rechts und
    erblickte den Geistlichen. Dieser, ein altes Männchen mit dünnem, halb ergrautem Barte und müden, gutmütigen Augen,
    stand am Chorpult und blätterte in der Agende. Er verneigte sich leicht vor Ljewin und begann sogleich in dem
    herkömmlichen Tone die Gebete vorzulesen. Als er damit fertig war, machte er eine Verbeugung bis zur Erde und
    wandte sich dann mit dem Gesicht zu Ljewin.
    »Christus steht hier unsichtbar vor Ihnen und empfängt Ihre Beichte«, begann er, auf das Kruzifix weisend.
    »Glauben Sie an alles, was uns die heilige apostolische Kirche lehrt?« fuhr er fort, indem er die Augen von Ljewins
    Gesicht wegwandte und die Hände unter dem Schultertuche faltete.
    »Ich habe an allem gezweifelt und tue es noch«, antwortete Ljewin; der Klang seiner Stimme mißfiel ihm selbst.
    Dann schwieg er.
    Der Geistliche wartete einige Sekunden, ob er vielleicht noch etwas hinzufügen wolle; dann schloß er die Augen
    und sagte mit ziemlicher Geschwindigkeit in der Mundart des Gouvernements Wladimir, die viele o enthält:
    »Das Zweifeln ist der menschlichen Schwachheit eigen; aber wir müssen beten, damit der barmherzige Gott uns fest
    mache. Welche besonderen Sünden haben Sie begangen?« fuhr er ohne die geringste Pause fort, wie wenn er darauf
    bedacht wäre, keine Zeit zu verlieren.
    »Meine größte Sünde ist der Zweifel. Ich zweifle an allem und befinde mich fast immer in Zweifel.«
    »Das Zweifeln ist der menschlichen Schwachheit eigen«, sagte der Geistliche noch einmal wie kurz zuvor. »Woran
    zweifeln Sie denn hauptsächlich?«
    »Ich zweifle an allem.

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