Anna Karenina
Ich zweifle manchmal sogar an dem Dasein Gottes«, antwortete Ljewin unwillkürlich und
erschrak selbst über die Unschicklichkeit dessen, was er gesagt hatte. Aber auf den Geistlichen machten Ljewins
Worte anscheinend keinen besonderen Eindruck.
»Wie kann denn jemand an dem Dasein Gottes zweifeln?« erwiderte er unverzüglich mit einem ganz leisen
Lächeln.
Ljewin schwieg.
»Wie können Sie denn an dem Schöpfer zweifeln, wenn Sie seine Schöpfung anschauen?« fuhr der Geistliche in
schneller, gewohnheitsmäßiger Redeweise fort. »Wer hat das Himmelsgewölbe mit Sternen geschmückt? Wer hat die Erde
in ihre Schönheit gekleidet? Wie ist das denkbar ohne einen Schöpfer?« sagte er und blickte Ljewin fragend an.
Ljewin fühlte, daß es unpassend wäre, sich auf eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Geistlichen
einzulassen, und gab daher nur eine Antwort, die direkt der Frage entsprach.
»Ich weiß es nicht«, sagte er.
»Sie wissen es nicht? Wie können Sie dann also daran zweifeln, daß Gott alles geschaffen hat?« erwiderte der
Geistliche mit heiterer Verwunderung.
»Ich verstehe nichts davon«, antwortete Ljewin errötend; er fühlte, daß seine Antworten dumm waren und in einer
solchen Lage nicht anders als dumm sein konnten.
»Beten Sie zu Gott und bitten Sie ihn. Sogar die heiligen Väter wurden von Zweifeln heimgesucht und baten Gott,
ihren Glauben zu stärken. Der Teufel hat eine große Gewalt, und wir dürfen uns ihm nicht unterwerfen. Beten Sie zu
Gott, bitten Sie ihn. Beten Sie zu Gott«, fügte er schnell noch einmal hinzu.
Der Geistliche schwieg eine Weile, wie in Gedanken versunken.
»Wie ich gehört habe, beabsichtigen Sie mit der Tochter meines Pfarrkindes und Beichtsohnes, des Fürsten
Schtscherbazki, in die Ehe zu treten?« fragte er dann lächelnd. »Ein vortreffliches Mädchen!«
»Ja«, erwiderte Ljewin und errötete über diese ihm ungehörig scheinenden Worte des Geistlichen. ›Wozu braucht er
mich danach in der Beichte zu fragen?‹ dachte er.
Und wie wenn er auf diesen Gedanken Ljewins antwortete, sagte der Geistliche zu ihm:
»Sie beabsichtigen in die Ehe einzutreten, und Gott wird Sie vielleicht mit Nachkommenschaft segnen, nicht wahr?
Nun, welche Erziehung werden Sie Ihren Kleinen geben können, wenn Sie nicht in Ihrer eigenen Seele die Versuchung
des Teufels, der Sie zum Unglauben verleitet, besiegt haben?« fragte er mit mildem Vorwurf. »Wenn Sie ihr Kind
lieben, so werden Sie als ein guter Vater ihm nicht nur Reichtum, Wohlleben und Ehren wünschen, sondern Sie werden
auch sein wahres Heil wünschen, seine geistige Erleuchtung durch das Licht der Wahrheit. Nicht wahr? Was werden Sie
ihm nun aber antworten, wenn das unschuldige Kindlein Sie fragt: ›Lieber Vater, wer hat alles das erschaffen, was
mich in dieser Welt ergötzt: die Erde, und die Gewässer, und die Sonne, und die Blumen und die Gräser?‹ Wollen Sie
ihm wirklich antworten: ›Ich weiß es nicht‹? Und es ist ja nicht möglich, daß Sie es nicht wissen sollten, da Gott
der Herr es Ihnen in seiner großen Gnade geoffenbart hat. Oder aber Ihr Kind wird Sie fragen: ›Was erwartet mich
nach dem Tode im Jenseits?‹ Was werden Sie ihm sagen, wenn Sie nichts darüber wissen? Welche Antwort werden Sie ihm
geben? Wollen Sie Ihr Kind der Hinterlist der Welt und des Teufels überlassen? Das wäre nicht recht gehandelt!«
sagte er, hielt inne, beugte den Kopf zur Seite und blickte Ljewin mit seinen guten, sanften Augen an.
Ljewin antwortete ihm jetzt nichts mehr, nicht deshalb, weil er sich mit dem Geistlichen nicht in einen Streit
einlassen wollte, sondern weil ihm noch niemand solche Fragen vorgelegt hatte. Er meinte, wenn einmal seine Kleinen
diese Fragen an ihn richten würden, dann würde es immer noch Zeit sein zu überlegen, was er ihnen antworten
solle.
»Sie treten jetzt in einen Abschnitt Ihres Lebens ein«, fuhr der Geistliche fort, »wo Sie Ihren Weg werden
wählen und dann unbeirrt verfolgen müssen. Beten Sie zu Gott, daß er in seiner Gnade Ihnen helfe und sich Ihrer
erbarme!« schloß er. »Unser Herr und Gott Jesus Christus verzeihe dir, mein Sohn, in seiner Gnade und in der Fülle
seiner Liebe zu den Menschen ...«, und nachdem der Geistliche das Absolutionsgebet zu Ende gesprochen hatte,
segnete er Ljewin und entließ ihn.
Als Ljewin an diesem Tage nach Hause zurückkehrte, hatte er die angenehme Empfindung, daß seine unbehagliche
Lage beendet war, und
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