Anna Karenina
noch vorhanden waren,
riefen bei dem Kranken jetzt schon denselben Widerwillen hervor wie der Körper selbst. Der Anblick anderer
Menschen, ihre Reden, seine eigenen Erinnerungen, alles dies bereitete ihm lediglich Schmerz und Pein. Seine
Umgebung fühlte das, und unwillkürlich vermied es jeder, im Zimmer des Kranken sich frei zu bewegen, ein Gespräch
zu führen oder einen Wunsch auszusprechen. Sein gesamter Rest von Lebenstätigkeit beschränkte sich ausschließlich
auf das Empfinden seines Leidens und auf den Wunsch, davon erlöst zu werden.
Es vollzog sich in seinem Innern offenbar jener Umschwung, der ihn dahin bringen mußte, im Tod die Erfüllung
seiner Wünsche, sein Glück zu sehen. Früher war jeder besondere, durch das Leiden oder durch irgendeinen Mangel
hervorgerufene Wunsch, wie Hunger, Müdigkeit, Durst, durch eine Tätigkeit des Körpers befriedigt worden, die ihm
Genuß gewährte; jetzt aber war bei seinem Leiden und allem, was er entbehrte, eine Befriedigung seiner Wünsche
unmöglich geworden, und jeder Versuch einer Befriedigung verursachte nur neues Leiden. Und daher fanden sich alle
seine Wünsche in dem einen Wunsche zusammen, von allen seinen Leiden und von deren Quelle, dem Körper, befreit zu
werden. Aber er fand keine Worte, um diesen Wunsch nach Befriedigung auszudrücken, und daher sprach er von diesem
Wunsche gar nicht, sondern forderte aus alter Gewohnheit die Erfüllung solcher Wünsche, die doch nicht mehr zu
seiner Befriedigung erfüllt werden konnten. »Legt mich auf die andere Seite«, sagte er und forderte gleich darauf,
man solle ihn wieder wie vorher lagern. – »Gebt mir Fleischbrühe!« – »Nehmt die Fleischbrühe weg.« – »Erzählt doch
etwas; warum schweigt ihr denn immer?« Und sobald sie zu reden anfingen, schloß er die Augen und bekundete
Müdigkeit, Gleichgültigkeit und Widerwillen.
Am zehnten Tage nach der Ankunft in der Stadt wurde Kitty krank. Sie hatte Kopfschmerzen und Erbrechen und mußte
den ganzen Vormittag über im Bett bleiben.
Der Arzt äußerte, die Krankheit komme von Übermüdung und Aufregung, und verordnete ihr seelische Ruhe.
Am Nachmittag stand Kitty aber doch auf und ging wie immer mit ihrer Handarbeit zu dem Kranken. Er sah sie bei
ihrem Eintritt mit einem strengen Blick an und lächelte geringschätzig, als sie sagte, sie sei krank gewesen. An
diesem Tage mußte er sich beständig die Nase schnauben und stöhnte kläglich.
»Wie fühlen Sie sich?« fragte sie ihn.
»Schlechter«, brachte er mühsam heraus. »Ich habe Schmerzen.«
»Wo haben Sie denn Schmerzen?«
»Überall.«
»Heute geht es mit ihm zu Ende; Sie werden sehen«, sagte Marja Nikolajewna, zwar flüsternd, aber doch so laut,
daß der Kranke, der, wie Konstantin gemerkt hatte, sehr feinhörig war, es gehört haben mußte. Konstantin bedeutete
ihr durch Zischen, sie solle still sein, und sah nach dem Kranken hin. Nikolai hatte es gehört; aber diese Worte
hatten auf ihn gar keinen Eindruck gemacht. Sein Blick war immer gleich vorwurfsvoll und gespannt.
»Warum denken Sie das?« fragte Konstantin sie, als sie ihm auf den Flur hinaus gefolgt war.
»Er hat angefangen, sich sauber zu machen«, antwortete Marja Nikolajewna.
»Was heißt das: sich sauber zu machen?«
»Sehen Sie: so!« erwiderte sie, indem sie an den Falten ihres wollenen Kleides herumzupfte. Und in der Tat hatte
Konstantin bemerkt, daß der Kranke diesen ganzen Tag über an sich herumgegriffen hatte, wie wenn er etwas abzupfen
wollte.
Marja Nikolajewnas Voraussage erwies sich als richtig. Der Kranke war zur Nacht nicht mehr imstande, die Arme zu
heben, und sah nur vor sich hin, ohne daß sich jemals der aufmerksam gespannte Ausdruck seines Blickes geändert
hätte. Selbst wenn sein Bruder oder Kitty sich über ihn beugten, so daß er sie sehen konnte, behielt er dieselbe
Art zu blicken bei. Kitty ließ einen Geistlichen holen, der das Sterbegebet lesen sollte.
Während der Geistliche das Gebet las, gab der Sterbende keinerlei Lebenszeichen von sich; seine Augen waren
geschlossen. Konstantin, Kitty und Marja Nikolajewna standen neben dem Bett. Der Geistliche hatte das Gebet noch
nicht bis zu Ende gelesen, als der Sterbende sich ausstreckte, seufzte und die Augen öffnete. Als der Geistliche
das Gebet beendet hatte, legte er ihm das Kreuz an die kalte Stirn und wickelte es dann langsam in sein
Schultertuch ein; nachdem er noch etwa zwei Minuten schweigend dagestanden hatte,
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