Anna Karenina
fort.«
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Die Morgendämmerung kam; der Zustand des Kranken war immer noch der gleiche. Konstantin machte ganz leise, ohne
den Sterbenden anzublicken, seine Hand frei, ging nach seinem Zimmer und legte sich schlafen. Als er wieder
erwachte, erfuhr er, statt der Nachricht vom Tode seines Bruders, die er erwartet hatte, daß der Kranke wieder in
den früheren Zustand zurückgekehrt sei. Er setzte sich wieder ab und zu hin, hustete, aß und redete; und er redete
nicht mehr vom Tode, sondern sprach wieder die Hoffnung auf Genesung aus und war noch reizbarer und finsterer
geworden als vorher. Niemand, weder sein Bruder noch Kitty, vermochte ihn zu beruhigen. Er war auf alle ärgerlich
und sagte allen Unangenehmes; allen machte er seine Leiden zum Vorwurf und verlangte, man solle ihm den berühmten
Arzt aus Moskau kommen lassen. Auf alle an ihn gerichteten Fragen, wie er sich fühle, antwortete er gleichmäßig mit
einem Ausdrucke des Ingrimms und des Vorwurfs: »Ich leide furchtbar, unerträglich!«
Die Leiden des Kranken wurden immer schlimmer, namentlich auch wegen der durchgelegenen Stellen, die nicht mehr
geheilt werden konnten; er ärgerte sich immer mehr über alle, die um ihn waren, machte ihnen alles mögliche zum
Vorwurf und schalt sie besonders deswegen, weil sie ihm nicht den Arzt aus Moskau kommen ließen. Kitty bemühte sich
auf jede Weise, ihm zu helfen und ihn zu beruhigen; aber es war alles vergeblich, und Konstantin sah, daß sie
selbst körperlich und seelisch erschöpft war, obwohl sie es nicht zugeben wollte. Das erste feierliche Gefühl der
Nähe des Todes, das in aller Herzen durch Nikolais Abschied vom Leben in jener Nacht hervorgerufen war, wo er den
Bruder hatte rufen lassen, dieses Gefühl war zerstört. Alle wußten, daß er mit Notwendigkeit und in Bälde sterben
werde, daß er bereits halb eine Leiche sei; alle hatten nur den einen Wunsch, daß er recht bald sterben möge. Aber
alle verheimlichten diese Erkenntnis und diesen Wunsch, reichten ihm aus dem Fläschchen seine Arznei, ließen andere
Arzneien und andere Ärzte holen und suchten den Kranken zu täuschen und jeder sich selbst und einer den andern. All
das war Lüge, häßliche, beleidigende, frevelhafte Lüge. Und diese Lüge empfand Konstantin Ljewin von allen am
schmerzlichsten, sowohl infolge seiner Charakterbeschaffenheit, wie auch weil er den Sterbenden am meisten
liebte.
Konstantin, den schon lange der Gedanke beschäftigte, die Brüder wenigstens vor dem Tode noch miteinander zu
versöhnen, hatte an den Bruder Sergei Iwanowitsch geschrieben, und als er seine Antwort erhalten hatte, las er dem
Kranken den Brief vor. Sergei Iwanowitsch schrieb, es sei ihm nicht möglich, selbst zu kommen, bat aber in
rührenden Ausdrücken den Bruder um Verzeihung.
Der Kranke äußerte nichts dazu.
»Was soll ich ihm zurückschreiben?« fragte Konstantin. »Ich hoffe, du bist nicht mehr zornig auf ihn?«
»Nein, gar nicht!« antwortete Nikolai ärgerlich auf diese Frage. »Schreib ihm, er soll mir den Arzt
herschicken.«
Es vergingen noch drei qualvolle Tage; der Kranke verblieb immer im gleichen Zustand. Den Wunsch, daß er bald
sterben möge, teilten jetzt alle, die ihn sahen oder von seinem Zustand wußten: die Dienerschaft des Hotels, und
der Wirt, und sämtliche Gäste, und der Arzt, und Marja Nikolajewna, und Konstantin Ljewin, und Kitty. Einzig und
allein der Kranke sprach keinen derartigen Wunsch aus, sondern war im Gegenteil darüber aufgebracht, daß man nicht
den Moskauer Arzt kommen lasse, und fuhr fort, seine Arzneien zu nehmen und vom Leben zu sprechen. Nur in den
seltenen Augenblicken, wo das Opium ihn auf kurze Zeit seine ununterbrochenen Leiden vergessen ließ, sprach er
mitunter im Halbschlummer den Gedanken aus, der im Grunde stärker als bei allen anderen in seiner Seele rege war:
»Ach, wenn es doch erst zu Ende wäre!« oder: »Wann wird das zu Ende sein?«
Die stetig sich steigernden Schmerzen taten ihr Werk und bereiteten ihn zum Tode vor. Es gab schon keine
Körperlage mehr, in der er nicht gelitten hätte, keinen Augenblick, wo er sich seiner Schmerzen nicht bewußt
gewesen wäre, an seinem ganzen Leibe keinen Fleck, keinen Teil, der ihm nicht weh getan, ihn nicht gepeinigt hätte.
Sogar die Erinnerungen, die seelischen Empfindungen, die Gedanken, die in diesem Körper
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