Anna Karenina
und versetzte ihn in eine solche Lage, daß er entweder dem jungen Mädchen
einen Antrag machen oder die Stadt verlassen mußte. Alexei Alexandrowitsch schwankte lange. Es sprachen damals
ebenso viele Gründe für diesen Schritt wie dagegen, und es lag eigentlich gar kein entscheidender Grund vor, der
ihn hätte veranlassen können, von seinem Grundsatz: »Im Zweifelsfalle Zurückhaltung!« abzugehen; aber Annas Tante
ließ ihm durch einen Bekannten eindringlich vorstellen, daß er das junge Mädchen bereits bloßgestellt habe und daß
er nach dem Gebot der Ehre verpflichtet sei, ihr seine Hand anzubieten. So machte er ihr denn einen Antrag und
widmete seiner Braut und künftigen Frau die gesamte Menge von Gefühl, deren er fähig war.
Die Zuneigung zu Anna ließ jedes in seiner Seele noch übrige Verlangen nach einem herzlichen Verhältnisse zu
anderen Menschen ersterben. Und jetzt stand ihm von allen seinen Bekannten kein einziger wirklich nahe. Er hatte
viele sogenannte Verbindungen, aber keine freundschaftlichen Beziehungen. Alexei Alexandrowitsch kannte viele
Leute, die er zu sich zum Mittagessen einladen, die er um ihre Mitwirkung bei einer ihn interessierenden
Angelegenheit, um ihre Fürsprache für irgendeinen Bewerber bitten, mit denen er über die Handlungen anderer
Personen und der höchsten Regierungsbehörden ohne Hemmung reden konnte; aber die Beziehungen zu diesen Leuten
beschränkten sich auf ein durch Brauch und Gewohnheit fest begrenztes Gebiet, das zu überschreiten unmöglich war.
Er hatte ja einen Universitätskameraden, dem er nachher etwas nähergetreten war und mit dem er allenfalls über
seinen persönlichen Kummer hätte reden können; aber dieser Kamerad war Kurator in einem weit entfernten Bezirk der
Unterrichtsverwaltung. Von seinen Petersburger Bekannten standen ihm verhältnismäßig noch am nächsten sein
Subdirektor und sein Hausarzt.
Michail Wasiljewitsch Sljudin, sein Subdirektor, war ein schlichter, verständiger, guter, braver Mann, und
Alexei Alexandrowitsch hatte die Empfindung, daß er ihm persönlich zugetan sei. Aber ihr fünfjähriges amtliches
Verhältnis hatte zwischen ihnen eine Schranke für Herzensergüsse errichtet.
Alexei Alexandrowitsch blickte, nachdem er mit dem Unterschreiben der Papiere fertig war, seinen Untergebenen
lange schweigend an und setzte mehrmals zum Reden an, konnte aber kein Wort hervorbringen. Er hatte sich schon den
Satz zurechtgelegt: ›Haben Sie von meinem Kummer gehört?‹ Aber schließlich sagte er doch nur wie gewöhnlich: »Also
bereiten Sie mir dies vor«, und entließ ihn damit.
Der zweite derartige Bekannte war sein Arzt, der gleichfalls eine freundliche Gesinnung gegen ihn hegte; aber
zwischen ihnen beiden bestand schon seit langer Zeit ein stillschweigendes Übereinkommen, einander nicht unnötig
lange in Anspruch zu nehmen, da sie beide mit Arbeit überhäuft waren und es immer sehr eilig hatten.
An seine Freundinnen und an die allererste unter ihnen, die Gräfin Lydia Iwanowna, dachte Alexei Alexandrowitsch
überhaupt gar nicht. Alle Frauen waren ihm, einfach schon als Frauen, entsetzlich und widerwärtig.
22
Alexei Alexandrowitsch hatte die Gräfin Lydia Iwanowna vergessen, aber sie ihn nicht. In diesem schwersten
Augenblick seiner einsamen Verzweiflung besuchte sie ihn und trat unangemeldet in sein Arbeitszimmer. Sie traf ihn
am Tische sitzend, den Kopf auf beide Hände gestützt.
»J'ai forcé la consigne« 1 , sagte sie, indem sie
schnellen Schrittes auf ihn zutrat; die Erregung und die rasche Bewegung benahmen ihr beinahe den Atem. »Ich habe
alles gehört, Alexei Alexandrowitsch, mein Freund«, fuhr sie fort, drückte ihm mit ihren beiden Händen die Hand und
blickte ihm mit ihren schönen, schwärmerischen Augen ins Gesicht.
Alexei Alexandrowitsch stand mit finsterer Miene auf und rückte ihr, nachdem er seine Hand frei gemacht hatte,
einen Stuhl heran.
»Ist es Ihnen nicht gefällig, Gräfin? Ich empfange nicht, weil ich krank bin«, sagte er; seine Lippen
bebten.
»Mein Freund«, sagte die Gräfin Iwanowna noch einmal, ohne die Augen von ihm wegzuwenden, und plötzlich zogen
sich ihre Brauen auf den inneren Seiten in die Höhe, so daß sie auf der Stirn ein Dreieck bildeten, wodurch ihr
unschönes gelbes Gesicht noch häßlicher wurde. Aber Alexei Alexandrowitsch fühlte, daß sie mit ihm Mitleid habe und
nahe daran sei, zu weinen. Und da überkam ihn die Rührung; er ergriff ihre
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