Anna Karenina
zu ihnen hereingestürzt kam. Sie war blaß, und ihre Lippen zitterten. »Er liegt im Sterben!« flüsterte sie.
»Ich fürchte, er wird gleich sterben.«
Beide eilten zu ihm. Er hatte sich im Bette etwas aufgerichtet und saß, auf einen Ellbogen gestützt, da; der
lange Rücken war zusammengekrümmt, der Kopf hing tief herab.
»Wie fühlst du dich?« fragte Konstantin flüsternd nach kurzem Schweigen.
»Ich fühle, daß ich davon muß«, sagte Nikolai mit Anstrengung, aber ungewöhnlich deutlich, indem er die Worte
langsam herauspreßte. Er hob den Kopf nicht in die Höhe, sondern richtete nur die Augen nach oben, ohne aber mit
ihnen das Gesicht des Bruders zu erreichen. »Katja, geh hinaus!« fügte er dann noch hinzu.
Konstantin sprang auf und veranlaßte sie, indem er ihr in gebieterischem Ton etwas zuflüsterte,
hinauszugehen.
»Ich muß davon«, wiederholte Nikolai.
»Warum meinst du das?« fragte Konstantin, um überhaupt etwas zu sagen.
»Weil ich davon muß«, sagte er noch einmal, wie wenn ihm dieser Ausdruck besonders gefiele. »Es ist zu
Ende.«
Marja Nikolajewna trat zu ihm heran.
»Sie sollten sich hinlegen; es ist Ihnen dann leichter«, sagte sie.
»Bald werde ich liegen«, antwortete er leise; »als Leiche«, fügte er spöttisch und ingrimmig hinzu. »Na, dann
legt mich hin, wenn ihr das wollt.«
Konstantin legte den Bruder auf den Rücken, setzte sich neben ihn und blickte ihm, kaum zu atmen wagend, ins
Gesicht. Der Sterbende lag mit geschlossenen Augen da; aber auf seiner Stirn bewegten sich ab und zu die Muskeln,
wie bei jemand, der tief und angestrengt nachdenkt. Unwillkürlich überlegte Konstantin, was wohl jetzt in der Seele
des Sterbenden vorgehen möge; aber wie sehr er auch seine Denkkraft anstrengte, um dem Gedankengang seines Bruders
zu folgen, so sah er doch am Ausdruck dieses ruhigen, ernsten Gesichtes und am Spiel der Muskeln oberhalb der
Brauen, daß dem Sterbenden immer klarer und klarer wurde, was für ihn, Konstantin, noch immer gleich dunkel
blieb.
»Ja, ja, so ist es«, sagte der Sterbende langsam und in Absätzen. »Warte einmal.« Wieder schwieg er eine Weile.
»So ist es!« fügte er dann in gedehntem Ton, wie beruhigt, hinzu, als ob er nun über alles ins reine gekommen wäre.
»O Gott!« sagte er hierauf und seufzte schwer.
Marja Nikolajewna befühlte seine Füße. »Sie werden kalt«, flüsterte sie.
Lange, sehr lange, wie es Konstantin vorkam, lag der Kranke da, ohne sich zu rühren. Aber er lebte immer noch
und seufzte von Zeit zu Zeit. Konstantin war von dem angestrengten Denken schon ganz müde. Er fühlte, daß er trotz
aller Anspannung seiner Denkkraft nicht imstande war, zu begreifen, was »so« war. Er fühlte, daß er in dieser
Gedankenarbeit schon längst hinter dem Sterbenden zurückgeblieben war. Er war jetzt nicht mehr imstande, an die
eigentliche Frage nach dem Wesen des Todes zu denken, sondern unwillkürlich kamen ihm Gedanken darüber, was er
jetzt, sofort, werde tun müssen: dem Toten die Augen zudrücken, ihn ankleiden, einen Sarg bestellen. Und seltsam:
er fühlte sich vollständig kalt und empfand weder Kummer noch das Gefühl eines Verlustes und noch weniger Mitleid
mit dem Bruder. Wenn jetzt in seiner Seele ein Gefühl seinem Bruder gegenüber rege war, so war es eher das Gefühl
des Neides wegen der Erkenntnis, zu der der Sterbende jetzt gelangt war, während sie ihm selbst noch unzugänglich
blieb.
Noch lange saß er so an seinem Bett und wartete immer auf das Ende. Aber das Ende kam noch nicht. Die Tür
öffnete sich, und Kitty erschien. Konstantin stand auf, um sie zurückzuhalten. Aber in dem Augenblick, als er
aufstand, hörte er, daß der Sterbende sich regte.
»Geh nicht fort«, sagte Nikolai und streckte die Hand aus. Konstantin gab ihm die seinige und winkte seiner Frau
ärgerlich zu, sie möchte hinausgehen.
Die Hand des Sterbenden in der seinen haltend, saß er eine halbe Stunde da, eine ganze Stunde, und noch eine
Stunde. An den Tod dachte er jetzt überhaupt nicht mehr. Er dachte, was wohl jetzt Kitty tue, wer in dem
anstoßenden Zimmer wohne, ob der Arzt ein eigenes Haus habe. Er bekam Lust, etwas zu essen, auch regte sich der
Wunsch zu schlafen. Vorsichtig machte er seine Hand frei und befühlte die Füße. Sie waren kalt; aber der Kranke
atmete immer noch. Konstantin versuchte wieder, auf den Fußspitzen hinauszugehen; aber der Kranke rührte sich
wieder und sagte: »Geh nicht
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