Anna Karenina
bedeckten Spieltische stand, und es lag in ihnen ein so leidenschaftlicher Ausdruck des
Flehens und der Hoffnung, daß es für Konstantin schrecklich war, hinzusehen. Er fühlte, daß dieses
leidenschaftliche Flehen und Hoffen seinem Bruder den Abschied von diesem Leben, das er so sehr liebte, nur noch
schwerer machte. Konstantin kannte seinen Bruder und dessen geistigen Entwicklungsgang; er wußte, daß Nikolais
Unglaube nicht daher rührte, daß er es leichter gefunden hätte, ohne Glauben zu leben, sondern daher, daß sein
Glaube Schritt für Schritt von den Erklärungen, die die moderne Wissenschaft von den irdischen Erscheinungen gibt,
zurückgedrängt worden war, und daher wußte er, daß seine jetzige Rückkehr zum Glauben keine normale war, sich nicht
auf dem Wege derselben Denkarbeit vollzog, sondern daß sie nur der Not des Augenblicks, dem Selbsterhaltungstrieb
und einer sinnlosen Hoffnung auf Genesung entsprang. Auch wußte Konstantin, daß Kitty durch ihre Erzählungen von
Fällen überraschender Genesung, von denen sie gehört habe, diese Hoffnung noch gesteigert hatte. Alles das wußte
Konstantin, und es war ihm eine entsetzliche Pein, diesen flehenden, hoffnungsvollen Blick und diese abgemagerte
Hand zu sehen, die sich nur mit Anstrengung hob, um auf dieser straff umspannten Stirn, auf diesen vorstehenden
Schultern und der hohlen, röchelnden Brust das Zeichen des Kreuzes zu machen, während doch der arme Leib das Leben,
um das der Kranke bat, nicht mehr in sich beherbergen konnte. Während der heiligen Handlung tat Konstantin das, was
er, der Ungläubige, schon tausendmal getan hatte. Er wandte sich zu Gott und sprach: »Wenn Du lebst und bist, so
mache, daß dieser Mensch wieder gesund werde« (diese letzteren Gebetsworte wiederholten sich ja im Laufe der
heiligen Handlung oftmals), »und Du wirst ihn und mich retten.«
Nach der Ölung wurde dem Kranken auf einmal viel besser. Er hustete im Laufe einer Stunde kein einziges Mal,
lächelte, küßte Kitty die Hand, dankte ihr unter Tränen und sagte, er fühle sich wohl, habe nirgends Schmerzen und
verspüre wieder Appetit und neue Kraft. Er richtete sich sogar ohne Beihilfe auf, als ihm seine Suppe gebracht
wurde, und bat noch um ein Kotelett. Obgleich sein Zustand völlig hoffnungslos war und man, wenn man den Kranken
ansah, nicht zweifeln konnte, daß eine Genesung ausgeschlossen sei, so befanden sich Konstantin und Kitty doch
diese Stunde hindurch in einer glücklichen Erregung und zugleich in einer ängstlichen Besorgnis, ob sie sich auch
nicht täuschten.
»Geht es ihm besser?« – »Ja, bedeutend besser.« – »Wunderbar!« – »Dabei ist nichts Wunderbares.« – »Nun,
jedenfalls geht es ihm besser«, sprachen sie flüsternd untereinander und lächelten einer dem andern zu.
Diese Selbsttäuschung war jedoch nicht von langer Dauer. Der Kranke war ruhig eingeschlafen; aber nach einer
halben Stunde weckte ihn ein Hustenanfall auf. Und auf einmal waren alle Hoffnungen wieder verschwunden, sowohl bei
seiner Umgebung wie auch bei ihm selbst. Die Schwere des tatsächlichen Leidens vernichtete bei Konstantin und bei
Kitty und bei dem Kranken selbst alle bisherigen Hoffnungen, ohne daß auch nur eine Erinnerung daran oder
irgendwelcher Zweifel übriggeblieben wäre.
Ohne von der religiösen Tröstung, an die er noch vor einer halben Stunde geglaubt hatte, ein Wort zu sagen, wie
wenn er sich schämte, auch nur daran zu denken, verlangte er, es solle ihm Jod zum Einatmen in einem Fläschchen
gegeben werden, das mit einem durchlöcherten Papier bedeckt war. Konstantin reichte ihm das Gefäß, und derselbe
Blick leidenschaftlicher Hoffnung, mit dem der Kranke die Letzte Ölung empfangen hatte, richtete sich jetzt auf den
Bruder und verlangte von ihm eine Wiederholung der Äußerung des Arztes, daß das Einatmen von Jod manchmal geradezu
Wunder wirke.
»Ist Kitty nicht hier?« sagte er heiser, nachdem ihm Konstantin mit Widerstreben die Worte des Arztes wiederholt
hatte, und sah sich um. »Nein, nun, dann kann ich es ja sagen ... Ich habe die ganze Komödie nur um ihretwillen
durchgeführt. Sie ist so lieb und gut; aber du und ich, wir dürfen einander nichts vormachen. Hier, an das hier
glaube ich«, sagte er und begann, seine knochige Hand fest um das Fläschchen pressend, aus ihm zu atmen.
Zwischen sieben und acht Uhr abends tranken Konstantin und seine Frau in ihrem Zimmer Tee, als Marja Nikolajewna
atemlos
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