Anna Karenina
berührte er die erkaltete
blutleere große Hand.
»Er ist verschieden«, sagte der Geistliche und wollte zurücktreten; aber plötzlich bewegte sich der
zusammengeklebte Schnurrbart des Daliegenden, und in der Stille wurden die aus tiefer Brust scharf und bestimmt
herauskommenden Worte deutlich vernehmbar:
»Noch nicht ganz ... aber bald.«
Eine Minute später hellte sich sein Gesicht auf, unter seinem Schnurrbart zeigte sich ein Lächeln, und die
Leichenfrauen, die sich schon versammelt hatten, gingen geschäftig daran, den Toten zurechtzumachen.
Der Anblick des Bruders und die Nähe des Todes hatten in Konstantin Ljewins Seele jenes Gefühl des Grausens vor
der Rätselhaftigkeit des Todes und zugleich vor seiner Nähe und Unvermeidlichkeit wieder von neuem wachgerufen, das
an dem Herbstabend, wo sein Bruder zu ihm auf Besuch gekommen war, sich seiner bemächtigt hatte. Dieses Gefühl war
jetzt in ihm noch stärker als vorher; er fühlte sich jetzt noch weniger fähig als früher, das eigentliche Wesen des
Todes zu verstehen, und seine Unvermeidlichkeit erschien ihm noch furchtbarer. Aber jetzt brachte ihn dieses
Gefühl, dank der Gegenwart seiner Frau, nicht zur Verzweiflung; denn trotz der Gegenwart des Todes fühlte er die
Notwendigkeit, zu leben und zu lieben. Er fühlte, daß die Liebe ihn vor der Verzweiflung rettete und daß diese
Liebe infolge der drohenden Verzweiflung noch stärker und reiner wurde.
Kaum hatte sich vor seinen Augen das ungelöst gebliebene Geheimnis des Todes vollzogen, als ein anderes, ebenso
rätselhaftes Geheimnis vor ihm erstand, das zur Liebe und zum Leben aufforderte.
Der Arzt stellte die Richtigkeit der Vermutung fest, die er im stillen über Kitty gehabt hatte: ihr Unwohlsein
rührte von Schwangerschaft her.
21
Von dem Augenblick an, wo Alexei Alexandrowitsch aus den Unterredungen mit Betsy und mit Stepan Arkadjewitsch
ersehen hatte, daß man weiter nichts von ihm verlange, als daß er seine Frau in Ruhe lassen und sie nicht mit
seiner Gegenwart belästigen möge und daß seine Frau dies selbst wünsche, seitdem fühlte er sich so rat- und
fassungslos, daß er zu keinem eigenen Entschluß fähig war und selbst nicht wußte, was er nun eigentlich wollte. So
überließ er sich denn ganz der Leitung der Personen, die sich seiner Angelegenheit mit so großem Vergnügen
annahmen, und gab zu allem seine Zustimmung. Erst als Anna bereits sein Haus verlassen hatte und die Engländerin
ihn fragen ließ, ob sie mit ihm zusammen oder allein speisen solle, kam er zum ersten Male zu einem klaren
Verständnis seiner Lage und geriet über sie in Entsetzen.
Was in dieser Lage am schwersten auf ihm lastete, das war, daß er schlechterdings nicht imstande war, seine
Vergangenheit mit dem jetzigen Zustand zu vereinigen, zwischen beiden einen inneren Zusammenhang zu finden. Was ihn
so in Verwirrung setzte, war nicht etwa jener Abschnitt der Vergangenheit, wo er mit seiner Frau ein glückliches
Leben geführt hatte. Den Übergang von diesem Abschnitt der Vergangenheit zur Erkenntnis, daß ihm seine Frau untreu
war, hatte er bereits wie ein Märtyrer verwunden; dieser zweite Zustand war schwer zu ertragen gewesen, aber es
hatte darin für ihn nichts Unverständliches gelegen. Wäre seine Frau damals, nach dem Eingeständnis ihrer Untreue,
von ihm gegangen, so würde ihn das geschmerzt haben, und er würde unglücklich darüber gewesen sein; aber er hätte
sich nicht in einer solchen Lage wie jetzt befunden, in einer Lage, die er geradezu nicht verstand und aus der er
für sich keinen Ausweg sah. Es war ihm jetzt ganz und gar unmöglich, die kürzlich von ihm so selbstlos gewährte
Verzeihung, seine Rührung, seine Liebe zu der kranken Gattin und zu dem fremden Kinde in einen inneren Zusammenhang
mit seiner jetzigen Lage zu bringen, das heißt damit, daß er jetzt gleichsam zum Lohne für alle seine Güte
vereinsamt, beschimpft und verspottet dastand, von niemand gesucht und von allen verachtet.
An den beiden ersten Tagen nach der Abreise seiner Frau empfing Alexei Alexandrowitsch wie gewöhnlich die
Bittsteller und seinen Subdirektor, fuhr ins Komitee und ging zum Mittagessen in das Speisezimmer. Ohne sich
darüber Rechenschaft abzulegen, zu welchem Zweck er das eigentlich tue, spannte er während dieser zwei Tage alle
seine Geisteskräfte an, um eine ruhige, sogar gleichmütige Miene zur Schau zu tragen. Bei der Beantwortung der
Fragen nach dem, was mit
Weitere Kostenlose Bücher