Anna Karenina
und Ihn um Hilfe anflehen. In Ihm allein finden wir Ruhe und
Trost und Rettung und Liebe«, sagte sie und begann, die Augen zum Himmel richtend, zu beten, wie Alexei
Alexandrowitsch aus ihrem Schweigen schloß.
Alexei Alexandrowitsch hatte ihr zugehört, und die Ausdrücke, die ihm früher wenn auch nicht gerade widerwärtig
gewesen, so doch überschwenglich vorgekommen waren, erschienen ihm jetzt so natürlich und tröstlich. Er war kein
Freund dieses neumodischen, schwärmerischen Wesens. Er war ein gläubiger Christ, der sich zur Religion vorwiegend
vom politischen Standpunkte aus hielt, und die moderne Richtung, die sich mehrere neue Auslegungen gestattete, war
ihm namentlich deshalb grundsätzlich zuwider, weil sie dem Streit der Meinungen und einer zersetzenden Kritik Tür
und Tor öffnete. Er hatte früher dieser neuen Richtung kühl, ja feindselig gegenübergestanden, sich indessen mit
der Gräfin Lydia Iwanowna, die dafür begeistert war, niemals in einen Streit darüber eingelassen, sondern ihre
herausfordernden Bemerkungen immer absichtlich mit Stillschweigen übergangen. Jetzt aber hatte er ihre
Redewendungen zum erstenmal mit Vergnügen angehört und innerlich ihnen nicht widersprochen.
»Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar für das, was Sie mir Gutes tun und sagen«, äußerte er, nachdem sie aufgehört
hatte zu beten.
Die Gräfin Lydia Iwanowna drückte ihrem Freunde noch einmal beide Hände.
»Jetzt will ich mich ans Werk machen«, sagte sie nach einer kurzen Pause des Schweigens lächelnd und wischte
sich die Tränenspuren vom Gesicht. »Ich gehe zu Sergei. Nur im äußersten Notfall werde ich mich an Sie wenden.« Sie
stand auf und ging hinaus.
Die Gräfin Lydia Iwanowna ging in Sergeis Zimmer und sagte dem Knaben, indem sie die Wangen des Erschrockenen
mit ihren Tränen benetzte, sein Vater sei ein Heiliger und seine Mutter sei gestorben.
Die Gräfin Lydia Iwanowna erfüllte ihr Versprechen. Sie nahm wirklich alle Sorgen für die Neuordnung und Leitung
von Alexei Alexandrowitschs Haushalt auf sich. Aber sie hatte nicht übertrieben, als sie sagte, sie habe in
praktischen Dingen nicht viel Erfahrung. Alle ihre Anordnungen mußten abgeändert werden, da sie einfach
unausführbar waren, und zwar wurden sie abgeändert von Alexei Alexandrowitschs Kammerdiener Kornei, der, ohne daß
sich jemand dessen recht bewußt geworden wäre, jetzt Karenins ganzen Haushalt leitete und ruhig und vorsichtig
seinem Herrn während des Ankleidens alles Erforderliche meldete. Aber dennoch war auch Lydia Iwanownas Hilfe im
höchsten Grade wirksam: sie hatte dem Traurigen eine Art von seelischer Stütze verliehen, sowohl dadurch, daß sie
ihn hatte erkennen lassen, wie sehr er von ihr geliebt und geschätzt wurde, wie auch namentlich insofern, als sie
(und es war ihr ein besonderer Trost, dies zu glauben) ihn schon beinah ganz zum Christentum bekehrt hatte, das
heißt ihn aus einem nur lässigen, lauen Gläubigen in einen warmen, eifrigen Anhänger jener neuen Auffassung des
Christentums verwandelt hatte, die in letzter Zeit in Petersburg soviel Verbreitung gefunden hatte. Alexei
Alexandrowitsch fand keine große Mühe dabei, sich von der Richtigkeit dieser Auffassung zu überzeugen. Ihm sowie
der Gräfin Lydia Iwanowna und anderen Leuten, die diese Anschauungen teilten, fehlte es vollständig an Tiefe der
Einbildungskraft, an jener geistigen Fähigkeit, die durch die Einbildungskraft hervorgerufenen Vorstellungen in dem
Maße wirklich werden zu lassen, daß sie mit anderen Vorstellungen und mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung
gebracht zu werden verlangen. Er sah nichts Unmögliches und Widerspruchsvolles in der Vorstellung, daß der für die
Ungläubigen bestehende Tod für ihn selbst nicht da sei und daß, da er nach seinem eigenen richterlichen Ermessen
den vollsten Glauben besitze, auch keine Sünde mehr in seiner Seele vorhanden sei und er schon hier auf Erden der
völligen Erlösung teilhaftig werde.
Allerdings hatte auch Alexei Alexandrowitsch selbst ein dunkles Gefühl von der Leichtfertigkeit und
Fehlerhaftigkeit dieser Vorstellung über seinen Glauben und wußte, daß er damals, wo er noch gar nicht daran
gedacht hatte, sein Verzeihen als die Wirkung einer höheren Macht aufzufassen, sondern sich einfach diesem
unmittelbaren Gefühle überlassen hatte, daß er damals ein größeres Glück empfunden hatte als jetzt, wo er sich
jeden Augenblick sagte, daß Christus in
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