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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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seiner Seele lebe und daß er, wenn er Papiere unterschrieb, lediglich
    seinen Willen zur Ausführung bringe. Aber es war ihm ein Bedürfnis geworden, so zu denken; es war ihm in dem Maße
    Bedürfnis geworden, in seiner Erniedrigung auf dieser wenn auch nur eingebildeten Höhe zu stehen, von der aus er,
    von allen verachtet, die anderen verachten konnte, daß er sich, wie an einen Rettungsanker, an seine vermeintliche
    Erlösung anklammerte.
Fußnoten
    1 (frz.) Ich bin gewaltsam
    eingedrungen.

23
    Die Gräfin Lydia Iwanowna war als sehr junges, schwärmerisches Mädchen an einen reichen, vornehmen, gutmütigen,
    liederlichen Lebemann verheiratet worden. Schon im zweiten Monat der Ehe vernachlässigte er sie und beantwortete
    ihre begeisterten Liebesbeteuerungen nur mit Spott und sogar mit einer Feindseligkeit, die die Leute, die
    einerseits das gute Herz des Grafen kannten und anderseits an der schwärmerischen Lydia keine Mängel sahen, sich
    schlechterdings nicht erklären konnten. Seitdem lebten sie, wenn sie sich auch nicht hatten scheiden lassen, doch
    getrennt voneinander, und wenn der Mann mit seiner Frau zusammentraf, so behandelte er sie stets und unveränderlich
    mit jenem giftigen Spott, dessen Ursache allen unverständlich war.
    Die Gräfin Lydia Iwanowna war in ihren Mann schon längst nicht mehr verliebt; aber es hatte seit jener Zeit
    keinen Augenblick gegeben, wo sie nicht in irgend jemand verliebt gewesen wäre. Manchmal war sie in mehrere
    Menschen zugleich verliebt, sowohl in Männer wie in Frauen; sie verliebte sich fast in alle Menschen, die sich
    durch irgend etwas auszeichneten. Sie verliebte sich in alle neuen Prinzen und Prinzessinnen, die mit der
    kaiserlichen Familie durch Heirat in Verwandtschaft traten; sie verliebte sich in einen Metropoliten, in einen
    Vikar und in einen Pfarrer; sie verliebte sich in einen Journalisten, in drei Panslawisten, in Komisarow; in einen
    Minister, in einen Arzt, in einen englischen Missionar und in Karenin. Alle diese zärtlichen Gefühle, die bald
    schwächer, bald stärker auftraten, hinderten sie nicht, die ausgedehntesten und verwickeltsten Beziehungen mit dem
    Hofe und der vornehmen Gesellschaft zu unterhalten. Aber seit sie nach dem Unglück, von dem Karenin betroffen
    worden war, diesen unter ihren ganz besonderen Schutz genommen hatte, sich in Karenins Haushalt abarbeitete und für
    sein persönliches Wohlbefinden sorgte, seitdem fühlte sie, daß alle ihre früheren Liebesgefühle nicht wahr und echt
    gewesen seien, daß sie aber jetzt in Karenin allein wirklich verliebt sei. Das Gefühl, das sie jetzt für ihn
    empfand, erschien ihr stärker als alle früheren. Wenn sie dieses Gefühl prüfte und mit ihren früheren verglich, so
    erkannte sie deutlich, daß sie sich in Komisarow nicht verliebt hätte, wenn er nicht dem Kaiser das Leben gerettet,
    sich nicht in Ristitsch-Kudschizki verliebt hätte, wenn er nicht so eifrig für den Panslawismus gewirkt hätte, daß
    sie aber Karenin um seiner selbst willen liebte, wegen seiner hohen, unverstandenen Seele, und wegen des ihr so
    angenehmen hohen Klanges seiner Stimme mit ihrem langgezogenen Tonfall, und wegen seines müden Blickes, und wegen
    seines Charakters und seiner weichen, weißen Hände mit den hervortretenden Adern. Sie freute sich nicht nur über
    jede Begegnung mit ihm, sondern sie suchte auch auf seinem Gesicht nach Merkmalen des Eindrucks, den sie auf ihn
    gemacht habe. Sie wünschte ihm nicht nur durch ihre Reden, sondern auch durch ihre gesamte Persönlichkeit zu
    gefallen. Sie beschäftigte sich um seinetwillen mit ihrem Äußeren jetzt mehr als je vorher. Sie ertappte sich bei
    Träumereien, was wohl geschehen könnte, wenn sie nicht verheiratet und auch er frei wäre. Sie errötete vor
    Erregung, sobald er ins Zimmer trat; sie konnte ein Lächeln des Entzückens nicht zurückhalten, wenn er ihr etwas
    Angenehmes sagte.
    Schon seit mehreren Tagen befand sich die Gräfin Lydia Iwanowna in der heftigsten Aufregung; sie hatte erfahren,
    daß Anna und Wronski sich in Petersburg befänden. Sie mußte Alexei Alexandrowitsch vor einer Begegnung mit Anna
    bewahren; sie mußte ihn sogar vor der schmerzlichen Kenntnis der Tatsache bewahren, daß dieses entsetzliche Weib
    sich mit ihm in ein und derselben Stadt aufhielt und er jeden Augenblick mit ihr zusammentreffen konnte.
    Lydia Iwanowna zog durch ihre Bekannten Erkundigungen darüber ein, was diese »schrecklichen Menschen«, wie sie
    Anna

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