Anna Karenina
schon.«
»Nein. Sehen Sie ihn einmal an«, sagte der kleine alte Herr und deutete mit seinem goldgestickten Hute auf
Karenin, der, in Hofuniform und mit dem neuen roten Ordensband um die Schulter, mit einem der einflußreichsten
Mitglieder des Reichsrates in der Saaltür stand. »Er ist glücklich und zufrieden wie ein Kupferdreier«, fügte er
hinzu und hielt dann inne, um einem herkulisch gebauten schönen Kammerherrn die Hand zu drücken.
»Nein, er ist doch recht gealtert«, meinte der Kammerherr.
»Von Sorgen. Er tut jetzt weiter nichts als Projekte ausarbeiten. Den Unglücklichen, den er da gefaßt hat, wird
er nicht loslassen, ehe er ihm nicht alles Punkt für Punkt auseinandergesetzt hat.«
»Der soll gealtert sein? Il fait des passions. 1 Ich glaube, die Gräfin Lydia Iwanowna ist jetzt eifersüchtig auf seine Frau.«
»Oh, oh! bitte, reden Sie nichts Schlechtes von der Gräfin Lydia Iwanowna.«
»Ist denn das etwas Schlechtes, daß sie in Karenin verliebt ist?«
»Ist es richtig, daß Frau Karenina hier ist?«
»Das heißt, hier im Palais ist sie nicht; aber in Petersburg ist sie. Ich habe sie gestern mit Alexei Wronski,
bras dessus, bras dessous, in der Morskaja-Straße getroffen.«
»C'est un homme qui n'a pas ...« 2 , begann der
Kammerherr, hielt aber inne, um einem vorbeikommenden Mitgliede der kaiserlichen Familie Platz zu machen und sich
zu verbeugen.
So sprach man unaufhörlich über Alexei Alexandrowitsch, bekrittelte ihn und machte sich über ihn lustig, während
er selbst jenem Mitglied des Reichsrates, dessen er sich bemächtigt hatte, den Weg versperrte und ihm, ohne auch
nur für einen Augenblick eine Unterbrechung in seiner Darlegung eintreten zu lassen, so daß der Ärmste hätte
entschlüpfen können, Punkt für Punkt einen Finanzplan auseinandersetzte.
Fast zur selben Zeit, wo ihn seine Frau verließ, hatte Alexei Alexandrowitsch das Bitterste durchmachen müssen,
was es für einen Beamten gibt: das Aufhören der aufsteigenden Bewegung in seiner Laufbahn. Dieser Stillstand war
zweifellos eingetreten, und alle sahen es deutlich; aber Alexei Alexandrowitsch selbst war noch nicht zu der
Erkenntnis gelangt, daß seine Laufbahn endgültig abgeschlossen sei. Ob nun der Zusammenprall mit Stremow den Grund
bildete oder das Unglück, das er mit seiner Frau gehabt hatte, oder einfach der Umstand, daß Alexei Alexandrowitsch
an die ihm vom Schicksal vorherbestimmte Grenze gelangt war, jedenfalls wurde es für alle in diesem Jahre
augenfällig, daß es mit seiner Laufbahn ein Ende hatte. Er bekleidete zwar noch ein hohes Amt, er war Mitglied
vieler Kommissionen und Komitees, aber er war nun schon ein Mann, den man für völlig verbraucht ansah und von dem
man nichts mehr erwartete. Er mochte reden und vorschlagen, was er wollte, man hörte ihm mit einer Miene zu, als
sei das, was er vorschlug, schon längst bekannt und gerade das Allerunbrauchbarste. Aber Alexei Alexandrowitsch
merkte das nicht; im Gegenteil, jetzt, wo er von der eigentlichen Mitarbeiterschaft bei der Regierungstätigkeit
ausgeschlossen war, erkannte er noch deutlicher als früher die Mängel und Fehler in der Tätigkeit anderer und hielt
es demgemäß für seine Pflicht, auf die Mittel zu ihrer Verbesserung hinzuweisen. Bald nach der Trennung von seiner
Frau begann er eine Denkschrift über die Notwendigkeit der Einrichtung eines neuen Gerichtshofes zu schreiben, die
erste in der langen Reihe jener Denkschriften aus allen Verwaltungsgebieten, die ihm zu verfassen noch beschieden
war und von denen niemand etwas wissen wollte.
Aber da Alexei Alexandrowitsch die Hoffnungslosigkeit seiner amtlichen Stellung gar nicht bemerkte, so kam es
ihm auch nicht in den Sinn, sich gekränkt zu fühlen; vielmehr war er mit seiner Tätigkeit mehr als je
zufrieden.
»Wer da freiet, der sorget, was der Welt angehöret, wie er dem Weibe gefalle; wer aber ledig ist, der sorget,
was dem Herrn angehöret, wie er dem Herrn gefalle«, sagte der Apostel Paulus, und Alexei Alexandrowitsch, der sich
jetzt in allen Stücken von der Heiligen Schrift leiten ließ, dachte häufig an diesen Spruch. Es schien ihm, daß er,
seitdem er ohne Frau lebte, durch diese seine Entwürfe dem Herrn mehr diente als früher.
Durch die sichtliche Ungeduld des Reichsratsmitgliedes, das von ihm loszukommen wünschte, ließ Alexei
Alexandrowitsch sich nicht stören; er hörte mit seinen Auseinandersetzungen erst dann auf, als jener Herr
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