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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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weiche Hand und küßte sie
    wiederholt.
    »Mein Freund«, sagte sie; aber die Stimme wollte ihr vor Erregung nicht gehorchen. »Sie dürfen sich nicht Ihrem
    Kummer so ganz überlassen. Ihr Leid ist groß; aber Sie müssen Trost finden.«
    »Ich fühle mich wie niedergeschmettert, wie zermalmt; ich bin gar kein Mensch mehr«, sagte Alexei
    Alexandrowitsch; er ließ ihre Hand los, sah ihr aber weiter in die tränenerfüllten Augen. »Meine Lage ist deshalb
    so furchtbar, weil ich nirgends, auch in mir selbst nicht, einen Stützpunkt finde.«
    »Sie werden eine Stütze finden; aber suchen Sie sie nicht in mir, wiewohl ich Sie bitte, an meine Freundschaft
    zu glauben«, erwiderte sie mit einem Seufzer. »Unsere Stütze ist die Liebe, jene Liebe, die Er uns hinterlassen
    hat. Seine Last ist leicht«, sagte sie mit jenem verzückten Blick, den Alexei Alexandrowitsch an ihr so gut kannte.
    »Er wird Ihr Halt und Ihre Hilfe sein.«
    Es klang aus diesen Worten die Rührung über die eigenen erhabenen Gefühle heraus; auch spürte man darin die
    neue, verzückte, erst unlängst in Petersburg Mode gewordene mystische Richtung. Aber obwohl Alexei Alexandrowitsch
    dergleichen sonst als Überschwenglichkeit verwarf, so hörte er diese Worte jetzt doch nicht ungern.
    »Ich bin ganz schwach. Ich bin wie vernichtet. Ich hatte nichts Derartiges vorausgesehen und begreife auch jetzt
    nichts davon.«
    »Mein Freund!« wiederholte Lydia Iwanowna.
    »Es handelt sich nicht um den Verlust dessen, was dahin ist; nein, darum handelt es sich nicht!« fuhr Alexei
    Alexandrowitsch fort. »Darüber klage ich nicht. Aber ich kann mir nicht helfen: ich schäme mich vor den Menschen
    wegen der Lage, in der ich mich befinde. Das ist schlecht von mir; aber ich kann nicht anders, kann nicht
    anders.«
    »Nicht Sie haben jene erhabene Tat der Vergebung vollbracht, die mich und alle entzückt, sondern Er, der in
    Ihrem Herzen wohnt«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna und richtete schwärmerisch die Augen empor, »und darum dürfen
    Sie sich Ihrer Tat nicht schämen.«
    Alexei Alexandrowitsch machte ein finsteres Gesicht, legte die Hände zusammen und knackte mit den Fingern.
    »Man muß alle Einzelheiten kennen, um ein Urteil über meinen Zustand zu haben«, sagte er mit seiner hohen
    Stimme. »Die Kräfte des Menschen haben ihre Grenzen, Gräfin, und ich bin an der Grenze der meinigen angelangt. Den
    ganzen Tag über habe ich heute Anordnungen treffen müssen, häusliche Anordnungen, die durch meine neue einsame
    Situation veranlaßt waren« (er legte einen besonderen Ton auf das Wort »veranlaßt«). »Die Dienerschaft, die
    Erzieherin, Rechnungen ... Ich wurde sozusagen auf gelinder Glut geröstet und war nicht imstande, es länger zu
    ertragen. Beim Mittagessen ... ich wäre gestern beinahe während der Mahlzeit vom Tisch weggegangen. Ich konnte es
    nicht ertragen, wie mein Sohn mich ansah. Er fragte mich nicht, was das alles zu bedeuten habe; aber er wollte
    fragen, und ich konnte seinen Blick nicht aushalten. Er fürchtete sich, mich anzusehen. Und damit noch nicht genug
    ...« Alexei Alexandrowitsch wollte von der Rechnung reden, die ihm zugestellt war; aber die Stimme begann ihm zu
    zittern, und er hielt inne. An diese auf bläuliches Papier geschriebene Rechnung über einen Hut und Bänder konnte
    er nicht denken, ohne sich selbst auf das tiefste zu bemitleiden.
    »Ich verstehe Sie, mein Freund!« erwiderte die Gräfin Lydia Iwanowna. »Ich verstehe alles. Die wahre Hilfe und
    den wahren Trost werden Sie allerdings bei mir nicht finden; aber doch bin ich nur zu dem Zwecke gekommen, Ihnen zu
    helfen, wenn ich es vermag. Wenn ich Ihnen doch all diese kleinlichen, erniedrigenden Sorgen abnehmen könnte ... Es
    ist mir klar, daß hier eine Frau schalten und walten muß. Wollen Sie mich damit beauftragen?«
    Alexei Alexandrowitsch drückte ihr schweigend und dankbar die Hand.
    »Wir wollen beide gemeinsam für Ihren kleinen Sergei sorgen. Ich habe zwar in praktischen Dingen nicht viel
    Erfahrung; aber ich werde es übernehmen, ich werde Ihre Haushälterin sein. Danken Sie mir nicht; ich tue das nicht
    selbst ...«
    »Ich muß Ihnen von ganzem Herzen danken.«
    »Aber, mein Freund, überlassen Sie sich nicht jenem Gefühl, von dem Sie sprachen: sich dessen zu schämen, was
    doch die höchste Vollendung des Christen darstellt; denn ›wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöhet werden‹. Und
    danken dürfen Sie mir nicht. Ihm müssen Sie danken

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