Anna Karenina
zurückgebliebenen
Sohnes zu beschäftigen. Da er sich früher niemals mit Erziehungsfragen abgegeben hatte, so hatte er nun zunächst
dem theoretischen Studium des Gegenstandes einen Teil seiner Zeit gewidmet und mehrere Bücher über Anthropologie,
Pädagogik und Didaktik durchgearbeitet. Dann hatte er einen Erziehungsplan aufgestellt, dem besten Pädagogen
Petersburgs die Leitung der Erziehung des Knaben übertragen und die Aufgabe in Angriff genommen. Und diese Aufgabe
beschäftigte ihn nun beständig.
»Ja, aber das Herz? Ich erkenne bei ihm das Herz des Vaters, und mit einem solchen Herzen kann das Kind nicht
schlecht sein«, erwiderte Lydia Iwanowna schwärmerisch.
»Mag sein ... Was mich betrifft, so erfülle ich eben meine Pflicht. Das ist alles, was ich tun kann.«
»Kommen Sie heute zu mir«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna nach einem kurzen Stillschweigen, »wir müssen über
eine für Sie sehr traurige Angelegenheit sprechen. Ich würde alles darum geben, wenn ich Sie vor gewissen
Erinnerungen bewahren könnte; aber andere Leute denken nicht so. Ich habe einen Brief von ihr erhalten. Sie ist hier, in Petersburg.«
Alexei Alexandrowitsch zuckte bei der Erwähnung seiner Frau zusammen; aber im nächsten Augenblick zeigte sich
auf seinem Gesicht jener Ausdruck einer leichenhaften Starrheit, der seine völlige Hilflosigkeit in dieser
Angelegenheit erkennen ließ.
»Ich habe das erwartet«, sagte er.
Die Gräfin Lydia Iwanowna blickte ihn schwärmerisch an, und Tränen des Entzückens über seine Seelengröße traten
ihr in die Augen.
Fußnoten
1 (frz.) Er erweckt Leidenschaften.
2 (frz.) Das ist ein Mensch, der nicht
...
25
Als Alexei Alexandrowitsch das kleine, mit altem Porzellan und Bildnissen geschmückte, gemütliche Arbeitszimmer
der Gräfin Lydia Iwanowna betrat, war die Hausfrau selbst noch nicht anwesend. Sie war dabei, sich umzukleiden.
Über den runden Tisch war ein weißes Tuch gebreitet, und darauf stand ein chinesisches Teegeschirr und eine
silberne Teemaschine mit Spirituslampe. Alexei Alexandrowitsch blickte zerstreut umher nach den zahllosen ihm
wohlbekannten Bildnissen, die das Zimmer schmückten; dann setzte er sich an den Tisch und schlug das dort liegende
Neue Testament auf. Das Rascheln des seidenen Kleides der Gräfin ließ ihn das Buch wieder schließen.
»Sehen Sie wohl, nun wollen wir uns recht gemütlich hinsetzen«, sagte sie und schob sich eilig mit lächelndem,
aber aufgeregtem Gesicht zwischen den Tisch und das Sofa, »und uns bei unserem Tee miteinander unterhalten.«
Nach einigen vorbereitenden Worten übergab sie ihm, schwer atmend und errötend, den Brief, den sie erhalten
hatte.
Nachdem er den Brief gelesen hatte, schwieg er lange.
»Ich glaube nicht, daß ich ein Recht habe, es ihr abzuschlagen«, sagte er dann in schüchternem Ton und blickte
auf.
»Mein Freund, Sie sehen in niemandem etwas Böses!«
»Im Gegenteil, ich sehe, daß alles böse ist. Aber ob es gerecht wäre, wenn ich ...«
Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Unentschlossenheit und die Bitte um Rat, Unterstützung und Leitung in
dieser Sache, bei der sein Verständnis versagte.
»Nein«, unterbrach ihn die Gräfin Lydia Iwanowna. »Alles hat seine Grenzen. Ich habe Verständnis für die
Sittenlosigkeit« (hierin redete sie nicht ganz aufrichtig, da sie niemals hatte begreifen können, was eigentlich
Frauen zur Sittenlosigkeit treibt), »aber ich habe kein Verständnis für die Grausamkeit, und Grausamkeit gegen wen?
Gegen Sie! Wie kann sie es wagen, sich in derselben Stadt aufzuhalten, wo Sie sind? Nein, man mag noch solange
leben, sagt das Sprichwort, man lernt immer noch etwas Neues; und was ich Neues lerne, das ist, Ihre Seelengröße
und die Niedrigkeit dieser Frau zu verstehen.«
»Wer darf einen Stein auf sie werfen?« sagte Alexei Alexandrowitsch, offenbar mit seiner Rolle bei dieser
Erörterung zufrieden. »Ich habe ihr alles vergeben, und daher darf ich sie nicht dessen berauben, was für sie ein
Bedürfnis der Liebe ist – der Liebe zu ihrem Sohne ...«
»Aber ist das auch wirklich Liebe, mein Freund? Ist das aufrichtig? Allerdings, Sie haben ihr verziehen, Sie
verzeihen ihr; ... aber haben wir ein Recht, in dieser Weise auf die Seele dieses Engels einzuwirken? Er hält sie
für tot; er betet für sie und bittet Gott, ihr ihre Sünden zu vergeben. Und so ist es auch am besten. Aber was
sollte er dann, dann denken?«
»An diese Seite der
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